Friedrich Cerha, 2016
APA/Herbert Pfarrhofer
APA/Herbert Pfarrhofer
Kultur

Komponist Friedrich Cerha ist tot

Der Komponist Friedrich Cerha ist am Dienstag im Alter von 96 Jahren gestorben. Der Doyen der österreichischen Avantgardemusik hatte in Maria Langegg (Bezirk Krems) und in Wien gewohnt.

Geboren wurde Friedrich Cerha am 17. Februar 1926 in Wien. Der musikalisch begabte Bub begann bereits im Alter von sechs Jahren, Geige zu spielen. Die ersten Kompositionen folgten nur zwei Jahre später, und auf eigene Initiative erhielt er Unterricht in Harmonielehre und Kontrapunkt. 1943, noch vor Abschluss des Gymnasiums, wurde Cerha zur Wehrmacht eingezogen. Der erklärte Gegner des NS-Regimes desertierte allerdings und flüchtete auf eine Tiroler Almhütte.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs studierte er an der Wiener Hochschule für Musik und darstellende Kunst Komposition bei Alfred Uhl, Violine bei Vasa Prihoda sowie Musikerziehung. Der promovierte Germanist pflegte auch Kontakte zu dem von avantgardistischen Malern und Literaten dominierten „Art Club“. Ab 1959 lehrte Cerha an der Wiener Musikhochschule, von 1976 bis 1988 war er Professor für Komposition, Notation und Interpretation neuer Musik.

Bekannt als Vollender von Bergs „Lulu“

1958 entstand das von Cerha mitbegründete Ensemble „die reihe“, das als Kammerensemble für Neue Musik mit exemplarischen Aufführungen gegen die in Österreich herrschende Ödnis in Bezug auf die Musik des 20. Jahrhunderts anspielte und damit einem großen Publikum zeitgenössische Kompositionen nahebrachte. Sein letztes Konzert gab das Ensemble übrigens im November 2019. Nicht zuletzt wurde in dieser Zeit Cerhas Affinität zur Zweiten Wiener Schule um Berg, Webern und Schönberg geschärft. Eine Folge davon war die Fertigstellung von Alban Bergs Opernfragment „Lulu“, das von Cerha um den dritten Akt ergänzt und 1979 von Pierre Boulez in Paris uraufgeführt wurde.

Fotostrecke mit 5 Bildern

Fotoprobe „Der Riese vom Steinfeld“, Staatsoper Wien, 2009
APA/Harald Schneider
Thomas Hampson als Riese und Diana Damrau als Die kleine Frau in Friedrich Cerhas Oper „Der Riese vom Steinfeld“ während einer Fotoprobe am 11. Juli 2002 in der Wiener Staatsoper
Thomas Hampson als Riese in „Der Riese vom Steinfeld“, Uraufführung an der Wiener Staatsoper am 15. Juni 2002
APA/Harald Schneider
Die Uraufführung der Oper von Peter Turrini (Text) und Friedrich Cerha (Musik) fand am 15. Juni 2002 an der Wiener Staatsoper statt
Thomas Hampson (l.) als Riese  und Herwig Pecoraro (r.) als der Klammerschneider in der Oper " Der Riese vom Steinfeld" , 2002
APA/Harald Schneider
Thomas Hampson (l.) als Riese und Herwig Pecoraro (r.) als der Klammerschneider
Janusz Monarcha (l.) als der Totengraeber und Alfred Sramek (r.) als der Sargtischler in der Oper „Der Riese vom Steinfeld“, 2002
APA/Harald Schneider
Janusz Monarcha (l.) als der Totengräber und Alfred Sramek (r.) als der Sargtischler
 Thomas Hampson (r.) als Riese und Diana Damrau (l.) in der Oper „Der Riese vom Steinfeld“, 2002
APA/Harald Schneider
Cerha arbeitete drei Jahre an „Der Riese vom Steinfeld“

Bis zur ersten wirklich eigenen Oper „Baal“ sollten noch ein paar Jahre vergehen. Das Werk nach einem Drama von Bertolt Brecht brachte endgültig den internationalen Durchbruch für Cerha und wurde 1981 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt. Daneben gehören vor allem die musikdramatischen Werke „Spiegel“ und „Netzwerk“ sowie die Literaturoper „Die Rattenfänger“ nach Carl Zuckmayer zu seinen bekanntesten Kompositionen. Cerha komponierte mit Vorliebe Werke für große Orchesterbesetzung, die stilistisch weiterhin auf dem Boden der Zweiten Wiener Schule wurzeln.

TV-Hinweis

Das Filmporträt „Friedrich Cerha – So möchte ich auch fliegen können“ ist am Sonntag, 19.2., in ORF 2 zu sehen (10.15 Uhr; Wiederholung am Mittwoch, 22. Februar, 11.35 Uhr).

Die letzten Jahre stand der Komponist nicht mehr am Pult, von vereinzelten Auftritten wie 2007 bei den Wiener Festwochen mit dem Klangforum oder anlässlich des Festkonzertes zu 50 Jahre „die reihe“ abgesehen. Das Dirigieren stellte er zugunsten seines kompositorischen Schaffens zurück. Und die Ergebnisse waren umfangreich: 2002 wurde die in Zusammenarbeit mit Peter Turrini entstandene Oper „Der Riese vom Steinfeld“ an der Wiener Staatsoper uraufgeführt, 2004 folgte mit Cerhas Requiem sein „Opus summum“.

Beim steirischen herbst gab es 2007 die Uraufführung des Konzerts für Bariton und Orchester, „Aderngeflecht“, dessen Text auf Gedichten von Emil Breisach basieren, im selben Jahr erklang „Les Adieux“ erstmals bei der Biennale in Venedig. 2010 kam „Like a Tragicomedy“ in Manchester zur Aufführung und 2013 stand mit „Onkel Präsident“ die Uraufführung einer komischen Oper im Münchner Prinzregententheater auf dem Spielplan.

Friedrich Cerha, 2016
APA/Herbert Pfarrhofer
Friedrich Cerha: „Ich habe Musik gemacht, so wie ich atme“

Im gleichen Jahr erklang bei den Salzburger Festspielen erstmals sein „Etoile für 6 Schlagzeuger“, bevor 2014 sein „Tagebuch für Orchester“ vom hr-Sinfonieorchester uraufgeführt wurde und 2015 „Drei Sätze für Orchester“. 2016 sorgte Cerhas „Eine blassblaue Vision“ – ein Auftragswerk der Salzburger Festspiele – bei seiner Uraufführung für tosenden Applaus in der Felsenreitschule.

Geehrt mit unzähligen Preisen und Orden

Anlässlich seines 90. Geburtstages wurde Friedrich Cerha in einem APA-Interview gefragt, ob er mit Zuschreibungen wie „Sie gelten legendär als uneitel und zugleich als Doyen der heimischen Klassik“ etwas anfangen könne. Cerhas Antwort im Jahr 2016: „Ich habe nie für Heilserwartungen oder Menschheitsbeglückungen gearbeitet. Ich habe Musik gemacht, so wie ich atme – einfach selbstverständlich und ohne Ehrgeiz. Wie man wahrgenommen wird, ist ja auch seltsam: Ich galt bis in meine hohen 50er als junger Komponist, und dann über Nacht plötzlich als Doyen der österreichischen Komponisten.“

Beinahe so zahlreich wie seine Werke waren auch Cerhas Auszeichnungen: Für seine kompositorische Arbeit erhielt er unter anderem den Preis der Stadt Wien (1974) und den Großen Österreichischen Staatspreis (1986). 1998 wurde er für seine Verdienste um die elektroakustische Musik geehrt. Das Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst folgte 2005, im Jahr darauf wurde er bei der Musik-Biennale in Venedig mit dem erstmals vergebenen „Goldenen Löwen für ein Lebenswerk“ geehrt. Cerha war Ehrenmitglied des Wiener Konzerthauses (1988) und der Gesellschaft der Wiener Musikfreunde (2007).

Fotostrecke mit 10 Bildern

Komponist Friedrich Cerha am 20. Juni 2012 während eines Interviews mit der Austria Presse Agentur (APA) in Wien.
APA/Herbert Neubauer
Friedrich Cerha am 20. Juni 2012 in seinem Haus während eines Interviews mit der Austria Presse Agentur
Komponist Friedrich Cerha am 20. Juni 2012, während eines Interviews mit der Austria Presse Agentur (APA) in Wien.
APA/Herbert Neubauer
„Meine Unabhängigkeit, mein Freiheitsdrang und meine Neugierde aufs Leben habe ich mir erhalten“, 2012
Komponist und Dirigent Friedrich Cerha am 19. Oktober 2013 anlässlich des Festaktes zum 100. Jahrestag zur
Eröffnung des Wiener Konzerthauses in Wien
APA/Bundesheer/Peter Lechner
Friedrich Cerha am 19. Oktober 2013 anlässlich des Festaktes zum 100. Jahrestag der Eröffnung des Wiener Konzerthauses
Bundespräsident Heinz Fischer und Dirigent Friedrich Cerha am 19. Oktober 2013 anlässlich des Festaktes zum 100.
Jahrestag zur Eröffnung des Wiener Konzerthauses in Wien
APA/Bundesheer/Peter Lechner
Cerha mit Bundespräsident Heinz Fischer anlässlich des Festaktes zum 100. Jahrestag der Eröffnung des Wiener Konzerthauses, 2013
Friedrich Cerha während eines Interviews mit der APA am 19.Jaenner 2006 in Wien.
APA/Herbert Pfarrhofer
„Alle meine ‚Helden‘ sind in ganz verschiedener Form Außenseiter der Gesellschaft“, so Cerha in einem APA-Interview im Jahr 2006
Gertraud Cerha (r.), sowie ihr Mann der Komponist Friedrich Cerha, erhält am 15. Mai 2009 im Rahmen einer Feierstunde das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse in Wien.
APA/Roland Schlager
Gertraud Cerha erhielt am 15. Mai 2009 im Rahmen einer Feierstunde in Wien das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse
Friedrich Cerha wurde am 7. Oktober 2006 bei der Musik-Biennale von Venedig im Teatro La Fenice mit dem „Goldenen Löwen für ein Lebenswerk“ ausgezeichnet.
APA/Ansa/Andrea Merola
Friedrich Cerha wurde am 7. Oktober 2006 bei der Musik-Biennale von Venedig im Teatro La Fenice mit dem „Goldenen Löwen für ein Lebenswerk“ ausgezeichnet
Bundespräsident Heinz Fischer (l.) am 3. Oktober 2005 bei der Überreichung des Österreichischen Ehrenzeichens für Wissenschaft und Kunst an Friedrich Cerha.
APA/Roland Schlager
Bundespräsident Heinz Fischer am 3. Oktober 2005 bei der Überreichung des Österreichischen Ehrenzeichens für Wissenschaft und Kunst an Friedrich Cerha
Komponist Friedrich Cerha (links) und Organist Martin Haselböck am 22. Februar 201 bei Proben vor der feierlichen Inauguration der rundum erneuerten Orgel im Wiener Konzerthaus.
APA/Herbert Neubauer
Friedrich Cerha und Organist Martin Haselböck am 22. Februar 2016 bei Proben vor der feierlichen Inauguration der rundum erneuerten Orgel im Wiener Konzerthaus
Komponist Friedrich Cerha und Organist Martin Haselböck am 22. Februar 2016 bei Proben vor der feierlichen Inauguration der rundum erneuerten Orgel im Wiener Konzerthaus. Die fünfmanualige Orgel ist mit ihren 116 Stimmen, verteilt auf fünf Manuale und Pedal, noch heute die größte Orgel Österreichs.
APA/Herbert Neubauer
Friedrich Cerha und Martin Haselböck. Die fünfmanualige Orgel im Wiener Konzerthaus ist mit ihren 116 Stimmen, verteilt auf fünf Manuale und Pedal, noch heute die größte Orgel Österreichs

2008 folgte das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien, 2011 der Musikpreis Salzburg und 2012 mit dem Ernst-von-Siemens-Musikpreis die wohl renommierteste Auszeichnung ihrer Art, mit 200.000 Euro dotiert, 2017 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Siegen verliehen. Das Land Niederösterreich ehrte ihn mit dem Silbernen Komturkreuz des Ehrenzeichens für Verdienste um das Bundesland Niederösterreich (2010) und mit der Statuette des heiligen Leopold in Bronze (2016). 2019 ernannte ihn die Musikuniversität Wien zu ihrem Ehrenmitglied.

Acht Jahrzehnte Cerha im Archiv der Zeitgenossen

Im Archiv der Zeitgenossen in Krems liegt Cerhas Vorlass, der die Jahre von 1934 bis 2014 umfasst. Beginnend mit der ersten Komposition des achtjährigen Friedrich Cerha aus dem Jahr 1934 befinden sich sämtliche originale Musikhandschriften des Komponisten im Bestand. Eigene Texte zu musiktheoretischen, kultur- und gesellschaftspolitischen Fragestellungen sowie zu eigenen Werken, umfangreiches Korrespondenzmaterial, Fotografien und vielfältige Rezeptionsdokumente zeugen von der künstlerischen und persönlichen Entwicklung des Komponisten.

Beachtlich ist auch die umfangreiche Sammlung an audiovisuellen Medien – Proben- und Konzertmitschnitte sowie Portraits und Interviews. Mit dem Archiv des Ensembles „die reihe“ und einem Konvolut an Materialien von Gertraud Cerha zeichnet der Bestand ein Bild des kulturellen Lebens im Österreich der Nachkriegszeit.

Gertraud Cerha, Stütze über Jahrzehnte hinweg

Gertraud Cerha, Ehefrau von Friedrich Cerha, habe durch ihre „unermüdliche Arbeit nicht nur das Werk ihres Mannes Friedrich Cerha gefördert, sondern auch zahlreichen jungen Komponisten den Weg geebnet“, hieß es im Jahr 2009 bei der Verleihung des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse.

Gertraud Cerha, 1928 als Gertraud Möslinger geboren und in Gmunden (Oberösterreich) aufgewachsen, habe auch durch ihre wissenschaftlichen Vorträge und Schriften einen großen Beitrag zur Musikforschung und Musikinterpretation geleistet. Schon während ihres Studiums in Wien (Musikerziehung, Geschichte, Gesang und Cembalo) hatte sie Kontakt zur zeitgenössischen Musik. In ihrer Unterrichtstätigkeit an einer Schule in Wien-Landstraße und der Hochschule für Musik habe sie „die Begeisterung für Musik vermittelt“.

Gertraud und Friedrich Cerha, 2012
APA/Herbert Neubauer
Gertraud und Friedrich Cerha, 2012

Nach der Hochzeit 1952 mit Friedrich Cerha wurde sie Teil der Szene Neuer Musik in Wien. Gertraud Cerha begleitete von Anfang an das Neue Musik-Ensemble „die reihe“, sorgte für den organisatorischen Ablauf und nahm auch aktiv an der Programmierung und der Gestaltung der Kommentare zu den Programmen teil. Sie betreute ORF-Sendungen und weitere Musikreihen und hielt Vorträge im In- und Ausland. Im Zentrum stand und steht das „Hinterfragen von Hörgewohnheiten und Ideologien“.

„Friedrich Cerha setzte – als Künstler und als Mensch – auf das Verbindende und war eine überaus liebenswürdige Persönlichkeit“, reagierte die Niederösterreichische Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) in einer Aussendung auf den Tod des Komponisten. Cerha habe Zeit seines Lebens eine enge Beziehung zu Niederösterreich gehabt und bereits 1963 ein Domizil in Maria Langegg im Dunkelsteiner Wald erworben.

Das Land Niederösterreich hat bereits zu Lebzeiten den gesamten Vorlass beginnend mit der ersten Komposition des achtjährigen Friedrich Cerha aus dem Jahr 1934 erworben. Sämtliche originale Musikhandschriften des Komponisten befinden sich im Bestand des Archivs der Zeitgenossen in Krems und stehen dort der weltweiten Musikforschung zur Verfügung.