Schild Behindertenparkplatz
ORF/Veronika Berger
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Soziales

Große Unsicherheit in Behinderteneinrichtungen

In der Coronakrise zählen die meisten Menschen mit einer Behinderung zu einer Risikogruppe, dürfen also weder besucht werden, noch das Haus verlassen. Ob und wie die Einschränkungen gelockert werden, ist völlig unklar. Das sorgt für große Unsicherheit.

Alice ist die Namensgeberin eines betreuten Wohnhauses, das ihr Vater für Menschen mit Behinderungen gegründet und mithilfe von Spenden aufgebaut hat. Johann Lorentz kommt Alice täglich besuchen. Weil im Wohnhaus – wie in allen anderen Behinderteneinrichtungen auch – ein striktes Besuchsverbot gilt, stellt er sich mit seinem Mobiltelefon in der Hand in den Garten und telefoniert mit Alice, die ihm vom Balkon ihrer Wohnung im ersten Stock zuwinkt. An diesen neuen Alltag mussten sich beide in den letzten Wochen erst gewöhnen, erzählt Lorentz.

Körperliche Nähe, Arbeit und soziale Kontakte fehlen

„Mittlerweile hat Alice die Maßnahmen wirklich akzeptiert. Was ihr aber sehr fehlt, sind Berührungen. Menschen mit Downsyndrom suchen oft besonders stark nach körperlicher Nähe, die ich ihr jetzt nicht geben kann. Außerdem vermisst sie ihre Freunde in der Arbeit in der Tageswerkstätte. Alice geht sehr gerne arbeiten und nimmt ihre Aufgaben sehr ernst“, schildert Lorentz.

Er ist davon überzeugt, dass Alice die Einschränkungen mit Fassung zu tragen lernte, weil sie in der Wohngemeinschaft ein sehr selbstständiges Leben führen könne. Seit sie das Haus und den Garten nicht mehr verlassen dürfe, vertreibt sich Alice ihre zusätzliche Zeit besonders gerne mit Malen. Sowohl sie als auch ihr Vater sehnen den Tag herbei, an dem sie sich wieder näher kommen können. In Sicht ist er allerdings noch nicht.

Behinderteneinrichtung Projekt Alice
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Johann Lorentz unterhält sich seit Wochen ausschließlich mit großer Distanz zu seiner 35-jährigen Tochter Alice. Auch tägliche Telefonate wurden für beide noch wichtiger

Behinderte Menschen gehören meist zu Risikogruppen

Nachdem behinderte Personen in den meisten Fällen auch einer Risikogruppe angehören, leben viele in strenger Isolation. Selbst von bisher erlaubten Ausgängen, wie etwa um arbeiten zu gehen oder einen Spaziergang zu machen, sind sie ausgenommen. Das Risiko einer Ansteckung wird als zu hoch eingestuft.

Die Tageswerkstätten, die dem Alltag vieler Menschen mit Behinderung Struktur verleihen, sind großteils geschlossen, vereinzelt findet ein Notbetrieb statt. In den Wohneinrichtungen herrscht – wie auch in Pflegeheimen – absolutes Besuchsverbot. Nur Betreuungspersonal ist der Zutritt erlaubt.

Sich auf diese vielfach neuen Situationen einzustellen, ist für viele behinderte Menschen alles andere als einfach. Die Zeit, die viele benötigen würden, um sich an Änderungen in ihrem Leben zu gewöhnen, gab es nach dem plötzlichen „Shut-down“ nicht.

In den Werkstätten waren viele zuletzt am Freitag vor etwa sieben Wochen beschäftigt, am Montag darauf waren die Werkstätten bereits geschlossen. Am Wochenende dazwischen sahen viele ihre Verwandten zum bisher letzten Mal. Seit diesem Zeitpunkt verbringen die Menschen in Wohneinrichtungen ausschließlich Zeit mit ihren Betreuerinnen und Betreuern, die aber grundsätzlich mehr Abstand zu ihnen einhalten müssen und sich nur noch mit Mund-Nasen-Schutzmasken in den Räumlichkeiten bewegen dürfen.

Aufklärungsarbeit als Herausforderung

Spaziergänge alleine im Freien sind ebenfalls nicht möglich. Bei manchen Bewohnerinnen und Bewohnern sind sie dann eingeschränkt erlaubt, wenn sie dabei von einer Betreuungsperson begleitet werden. Die meisten Menschen mit Behinderung leiden unter dem Kontaktverbot am meisten. Das beobachtet auch Andreas Zehetner, Selbstvertreter im österreichischen Behindertenrat und selbst Bewohner einer Wohneinrichtung der Lebenshilfe in Wiener Neudorf (Bezirk Mödling).

Mit 23 anderen Menschen lebt er seit knapp sieben Jahren in der Einrichtung. Seine Mutter besuchte er Wochen nicht, aber er telefoniert zwei Mal täglich mit ihr. Je schwerer die Maßnahmen verstanden werden, desto schwieriger sei auch die Umsetzung, sagt er: „Hier passiert sicherlich viel an Aufklärungsarbeit, aber an manchem müssen wir noch mehr arbeiten.“

Das bestätigt auch Friederike Pospischil, die Präsidentin der Lebenshilfe Niederösterreich. „Wenn sich sogar jene schwer tun, die die Gründe und das Ausmaß verstehen, wie sollen dann jene mit den neuen Regeln zurechtkommen, die nicht verstehen, warum sie beispielsweise am Wochenende nicht mehr zu den Eltern fahren dürfen?“ In den Einrichtungen seien laut Pospischil die Betreuerinnen und Betreuer jetzt besonders gefordert, um aufzuklären und auch zu trösten, „wenn Tränen fließen, weil die Maßnahmen nicht nachvollzogen werden können.“

Besondere Belastung für Familien

Viele Familien würden derzeit besonders belastet werden und Engpässe bei der Betreuung abfedern müssen. „Mehr als die Hälfte der behinderten Menschen unserer Einrichtungen werden derzeit von Angehörigen betreut oder gepflegt, die jetzt massiv gefordert sind. Im Homeoffice neben Kindern zu arbeiten, ist teils schon eine große Belastung. Viele unserer Klientinnen und Klienten müssen aber rund um die Uhr betreut werden. Bei Diskussionen um Betreuungs- oder Pflegeverpflichtungen wird neben Kinderbetreuung und Altenpflege auf die speziellen Bedürfnisse behinderter Menschen aber vergessen.“

Pospischil wünscht sich für betroffene Familien eine baldige Perspektive. In der Behindertenbetreuung ist derzeit noch unklar, ob und wie die derzeitigen Einschränkungen gelockert werden können. Denn Fakt ist, dass viele Schutzmaßnahmen für Menschen mit Behinderungen nicht anwendbar seien, so Pospischil. Wer etwa den Körper braucht, um sich mitzuteilen, könne zu anderen weder Abstand halten noch Schutzmasken tragen.

Im Umgang mit behinderten Menschen seien manche Distanzvorgaben nicht oder nur schwer durchsetzbar. Doch an genau solche Vorschriften sind viele Lockerung geknüpft. „Viele Betroffene sind nach sieben Wochen am Ende ihrer Kräfte. Für uns stellt sich die Frage, wie wir zu einer gewissen Normalität finden und gleichzeitig eine gewisse Sicherheit haben können“, so Pospischil. „Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass viele unserer Klientinnen und Klienten gesundheitlich vorbelastet sind.“

Gesundheitliche und finanzielle Absicherung gefordert

Nicht nur die gesundheitliche Sicherheit für alle Beteiligten spielt hier eine Rolle, sondern auch die finanzielle Sicherheit für Einrichtungen – beispielsweise für die Tageswerkstätten, die es spätestens dann wieder brauchen wird, wenn wieder mehr pflegende Angehörige ihren Berufen nachgehen müssen. „Hier bräuchten wir die Sicherheit, dass wir trotzdem so finanziert werden wie bisher und auch die Plätze jener bestehen bleiben können, die jetzt wegen erhöhter gesundheitlicher Risiken auch noch längere Zeit zu Hause bleiben werden.“

Für die davon betroffenen Familien wäre es eine „Katastrophe“, wenn diese Plätze später beispielsweise durch Personalkürzungen nicht mehr zur Verfügung stünden. Denn speziell während der Pandemie brauche es mehr Personal. Ob die für Mai angekündigten Lockerungen auch für den Behindertenbereich gelten könnten, weiß Pospischil nicht. „Die Bedürfnisse behinderter Menschen werden oft nicht gesehen und auch bei den bisherigen Ankündigungen ist unser Bereich nie genannt worden.“

Neuer Alltag nur schwer vorstellbar

Wie ein neuer Alltag nach den Lockerungen aussehen könnte, kann sich Pospischil unter den derzeitigen Vorzeichen nur schwer vorstellen. „Wir betreuen ja auch Menschen, denen man keine Maske aufsetzen kann, die keine Abstände halten können, weil sie auch Berührung brauchen und mit Berührung kommunizieren oder die Hygienemaßnahmen wie Hände waschen und sich nicht ins Gesicht zu greifen nicht befolgen können.“ Um solche Regelungen unter allen Menschen in den Tageswerkstätten durchsetzen zu können, bräuchte es sowohl mehr Platz als auch ein Betreuungsverhältnis von einer Betreuungsperson pro behinderter Person. Doch das gäbe es laut Pospischil „in keinem Maß“.