Schriftstellerin Marlene Streeruwitz am Donnerstag, 10. Juli 2014, während einer Lesung anlässlich der Eröffnung des Literaturfestivals „O-Töne“ in Wien
APA/GEORG HOCHMUTH
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Kultur

Marlene Streeruwitz: Eine Streitbare wird 70

„So ist die Welt geworden.“, heißt der „Covid19 Roman“, an dem Marlene Streeruwitz seit 20. März schreibt, und dessen Episoden auf ihrer Website abrufbar sind. Am Sonntag wird die Autorin, die in Baden geboren wurde, 70 Jahre alt.

Mit „Flammenwand.“, einem „Roman mit Anmerkungen“, in dem ein Monolog einer von ihrem Freund betrogenen Frau über Fußnoten mit einer Chronologie der österreichischen Innenpolitik verbunden wurde, war Streeruwitz im Vorjahr sowohl für den Österreichischen als auch für den Deutschen Buchpreis nominiert. Doch auch in Zeiten ohne neue Buchveröffentlichung ist die Autorin stets präsent.

Wachsame Bürgerin und feministische Zwischernruferin

Als politisch wachsame Bürgerin und streitbare Zeitgenossin mit dezidiert feministischer Haltung betätigt sie sich immer wieder in Zeitungsbeiträgen, Reden und Essays als Zwischenruferin, dennoch ist sie eine klare Anhängerin der großen Prosaform: „Der Roman ist das einzige Mittel, das Leben insgesamt und in allen Zusammenhängen auszudrücken“, sagte sie kürzlich der Wochenzeitung „Falter“. „Die basale politische Bedeutsamkeit einer derartigen Versprachlichung der Bedingungen des Lebens muss nicht noch einmal auf tagespolitische Wirkungen befragt werden. Dieser basalen politischen Bedeutsamkeit habe ich mich in meiner Arbeit verpflichtet.“

Diese Arbeit, in der sie meist auf kurze Sätze und im Titel stets auf einen abschließenden Punkt setzt, ist mit vielen Preisen ausgezeichnet worden, etwa mit dem Franz-Nabl-Preis oder dem Droste-Literaturpreis, zuletzt im Jänner mit dem Preis der Literaturhäuser.

Sie wage sich „immer mitten hinein in die Krisen unserer Gegenwart. An ihren zwischen zornigen Befreiungsversuchen und Selbstverlust changierenden Frauenfiguren spielt Streeruwitz verschiedenste Möglichkeiten durch, die mehr oder weniger subtilen Macht- und Gewaltstrukturen unserer Gesellschaften literarisch erfahrbar zu machen“, heißt es in der Begründung, in der die Programmleiter auch auf die große Fähigkeit der Autorin verweisen, ihre Literatur und ihr Anliegen zu vermitteln.

Schriftstellerin Marlene Streeruwitz am Donnerstag, 10. Juli 2014, während einer Lesung anlässlich der Eröffnung des Literaturfestivals „O-Töne“ in Wien
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Streeruwitz vertrete „einen dezidiert feministischen Standpunkt, der Teil eines umfassenden politischen Engagements ist. Mutig und kompromisslos bezieht sie immer wieder Stellung zu Grundsatzfragen von Politik, Gesellschaft und Kultur, mischt sich vielfach aber auch in tagespolitische Angelegenheiten ein“, so die Jury des Franz-Nabl-Preises 2015, er ist der höchstdotierte Literaturpreis der Stadt Graz

„Veranstaltungen mit Marlene Streeruwitz versprechen immer engagierte Gespräche auf hohem intellektuellem Niveau, dabei gut nachvollziehbar. Kaum jemand sonst kann so konzise und anschaulich über auch komplexe (literatur-)politische Fragen sprechen. Immer hellwach auf der Bühne, ist sie ebenso streitbar wie zugewandt und sieht genau dorthin, wo sich Literatur, Politik und Leben so verzahnen, dass es wehtut“, hieß es über die Schriftstellerin.

Ihre Theaterstücke sind Herausforderungen

Marlene Streeruwitz wurde am 28. Juni 1950 in Baden geboren, studierte Slawistik und Kunstgeschichte, arbeitete als Journalistin bei einer Öko-Zeitschrift („Natur ums Dorf“) und für Aktionen der Landschaftswiederherstellung. Ab 1986 trat sie mit literarischen Veröffentlichungen und als Verfasserin von Hörspielen in Erscheinung. Die Uraufführungen von „Sloane Square.“ und „Waikiki-Beach.“ am Kölner Schauspielhaus brachten ihr 1992 den Titel „Nachwuchsautorin des Jahres“ der Fachzeitschrift „Theater heute“ ein.

Ihre Stücke sind ein souveränes, freies Spiel mit Zitaten, Figuren und Situationen quer durch Welt- und Literaturgeschichte. „New York. New York.“, „Elysian Park.“, „Ocean Drive.“, „Bagnacavallo.“ und andere Stücke sind gleichzeitig aber auch eine Herausforderung für herkömmliches Theaterverständnis und traditionelle Bühnenregie. In den vergangenen Jahren konzentrierte sich Streeruwitz auf Prosa, doch wurde etwa ihr Text „Mar-a-Lago. oder. Neuschwanstein.“ 2018 von Christina Tscharyiski erfolgreich am Berliner Ensemble uraufgeführt.

In den 1990er-Jahren betätigte sich Streeruwitz am Schauspielhaus Wien (u.a. bei „Die Donau“ von Maria Irene Fornes) und am Schauspiel Köln auch selbst als Regisseurin, später vor allem als Hörspielregisseurin. In „Hotel“ von Jessica Hausner hatte Streeruwitz auch einen Filmauftritt als strenge Hoteldirektorin.

Eine schmucklose, stakkatoartige Sprache

1996 erschien ihr erster Roman „Verführungen.“, der ihr den Mara-Cassens-Preis einbrachte. In der für sie typischen, schmucklosen, stakkatoartigen Sprache erzählt sie darin die Geschichte einer alleinerziehenden 30-jährigen Frau, die sich mit wechselndem Erfolg durch den Alltag kämpft. Im Jahr darauf folgte „Lisa’s Liebe.“, ein dreibändiger „literarischer Groschenroman“ über eine Frau auf der Suche nach der großen Liebe. In der Folge erschienen u.a. der Roman „Nachwelt.“ (1999), die Erzählung „Majakowskiring.“ (2000) und die Romane „Partygirl.“ (2002) und „Jessica, 30.“ (2004). In „Kreuzungen.“ (2008) lieferte sie eine sarkastische Spiegelung von übersteigertem Macht- und Männlichkeitswahn, bei der das neurotische Innenleben eines superreichen Geschäftsmannes nach außen gestülpt wird.

Schriftstellerin Marlene Streeruwitz am Donnerstag, 10. Juli 2014, während einer Lesung anlässlich der Eröffnung des Literaturfestivals „O-Töne“ in Wien
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„Mit energischer Beharrlichkeit vor allem die Interessen der Frauen verfechtend, entwirft sie mit großer analytischer Kompetenz und mit souveräner Sprechkraft Figuren- und Handlungsmodelle des zeitgenössischen Lebens“, so 2009 die Jury des Droste-Literaturpreises

In „Die Schmerzmacherin.“ (2011) absolviert eine junge Frau eine Ausbildung zur Angestellten eines internationalen Sicherheitsunternehmens, wird aber mit beinharten Trainings und undurchschaubaren Vorgängen konfrontiert, denen sie sich nicht gewachsen fühlt. Der Roman brachte Streeruwitz ihre erste Nominierung für den Deutschen Buchpreis.

Dieses Thema ließ die Schriftstellerin auch danach nicht mehr los. 2014 landete sie mit „Nachkommen.“ einen literarischen Coup: In dem Buch reist die für den Buchpreis nominierte Protagonistin Nelia Fehn mit ihrem Debütroman „Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland“ nach Frankfurt am Main, wo sie tiefe Einblicke in die Literaturbetriebsmaschinerie erhält. „Nachkommen.“ schaffte es auf die Longlist – und kurz vor der Buchmesse legte Streeruwitz dann auch noch Nelia Fehns Roman selbst vor.

Eine scharfe Kritikerin der Innenpolitik

2016 begleitete die Autorin, die in Wien, London und New York lebt, die politischen Geschehnisse in Österreich mit dem „Wahlkampfroman“ „So wird das Leben.“, in dem sie einmal wöchentlich neue Erlebnisse ihrer Protagonistin Vroni schilderte. „Yseut.“, ein „Abenteuerroman in 37 Folgen“ konfrontierte anspielungsreich eine Wiener Linguistin in der Poebene mit geheimnisvollen Vorgängen und der eigenen Lebensgeschichte.

In „Flammenwand.“ baute sie in die Geschichte ihrer Hauptfigur, die sich ein Sabbatical als Deutschlektorin genommen hat und in Stockholm über die von ihrem Lebensgefährten erfahrenen Enttäuschungen räsoniert, mittels Fußnoten reale Ereignisse der Innenpolitik ein – eine über 40-seitige Chronologie des Schreckens von der BVT-Affäre über Verschärfungen der Asylgesetze und Angriffe gegen den ORF bis zur Kürzung von Sozialleistungen.

Von ihrem „Covid19 Roman“ sind bisher drei Serien mit 35 Episoden erschienen. In ihnen wird u.a. vor einem Lockdown-Faschismus und einem autoritären Hygienestaat gewarnt. „Betty ist mehr als jede andere literarische Figur verwandt mit mir“, sagte Marlene Streeruwitz dem Radiosender WDR 3. Und: „Solange diese Sache nicht in eine Normalität zurückgeführt wird, solange wird dieser Roman geschrieben werden müssen.“