Das Innere des Hotels Huber in Ceske Velenice um 1930
Sammlung Tröstl
Sammlung Tröstl
Kultur

Als in Gmünd Weltliteratur entstanden ist

Vor 100 Jahren, im August 1920, ist es in Gmünd zu einem Treffen von Franz Kafka und Milena Jesenska gekommen. Es war eine schicksalhafte Begegnung zwischen dem Schriftsteller und der Journalistin. Kafkas „Briefe an Milena“ wurden zu Weltliteratur.

Am 14. und 15. August 1920 kam es in Gmünd, an der österreichisch-tschechoslowakischen Grenze und auf halbem Weg zwischen Wien und Prag, zum Treffen der tschechischen Journalistin und Übersetzerin aus Wien und dem deutschsprachigen Versicherungsangestellten und Schriftsteller aus Prag. Wenige Tage zuvor war hier die Grenze zwischen den neuen Staaten gezogen worden, sodass der Bahnhof Gmünd nun in der Tschechoslowakei lag.

Franz Kafka (1883–1924) ist heute unbestritten einer der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, Milena Jesenska (1896–1944) hingegen ist vorwiegend als „Kafkas Freundin“ bekannt. Ihre Essays und Schriften und ihre Aktivitäten im Widerstand gegen die Nationalsozialisten kennen hingegen nur wenige Menschen.

Ein intensiver Sommer im Jahr 1920

Im April 1920 erhielt der an Tuberkulose leidende Franz Kafka in seinem Erholungsaufenthalt in Meran die Übersetzung seines Textes „Der Heizer“ ins Tschechische von Jesenska, der er dazu bei einer flüchtigen Begegnung in Prag die Erlaubnis erteilt hatte.

Hotel Bahnhof Huber in Ceske Velenice
Museum Ceske Velenice
Im Hotel „Huber“ beim Bahnhof in Ceske Velenice nahmen sich Franz Kafka und Milena Jesenska am 14. August 1920 je ein Zimmer und verbrachten das Wochenende in Gmünd

„Ein höflicher, dann immer intensiver und vertrauter werdender Briefwechsel beginnt. Am Ende seines Aufenthalts im Juli hatten die beiden mit dem Schreiben von Briefen und im Voneinanderlesen eine so tiefe Liebe zueinander entfacht, dass eine persönliche Begegnung wohl unausweichlich geworden war, ängstlich von beiden ersehnt“, schreibt Thomas Samhaber, Gründer der Kulturinitiative „Prechody/Übergänge“, in seinem in Kürze erscheinendem Buch „Begegnung an der Grenze“.

Jesenska war mit dem Kaffeehausliteraten Ernst Pollak in Wien wenig glücklich verheiratet und hatte Prag wegen ihres Vaters, der als Tscheche die Ehe mit dem deutschsprachigen Juden kategorisch ablehnte, verlassen müssen. Kafka war in Prag verlobt, krank und voller Ängste, und beide wussten wohl nicht genau, wie diese besondere Liebe in ihrem Leben Platz finden könnte. Sie verbrachten Ende Juli 1920 vier gemeinsamen Tage in Wien und beschlossen, einander bald wieder persönlich zu treffen.

Gmünd brachte einen Wendepunkt in der Beziehung

„Gmünd, an der Franz-Josefs-Bahn zwischen Prag und Wien gelegen, bietet sich dafür an. Die Begegnung findet von Samstag, dem 14. August, bis zum Sonntag, dem 15. August 1920, statt. Sie buchen im Hotel Huber beim Bahnhof (Bild oben, Anm.) je ein Zimmer“, erzählt Samhaber. Sie gingen in Gmünd spazieren, kauften eine Ansichtskarte für Kafkas Schwester Ottla. Kafka schrieb darauf, wie gut es ihm gehe, „und Milena Jesenska fügte noch einen scherzhaften Satz hinzu, unterschrieb, strich ihren Namen aber wieder durch, schließlich war sie noch eine verheiratete Frau“.

Bahnhof Gmünd
Stadtarchiv Gmünd
Der Bahnhof Gmünd. Nach dem am 16. Juli 1920 in Kraft getretenen Friedensvertrag von Saint-Germain wurden u. a. Böhmen, Mähren und einige Gemeinden (u. a. Feldsberg und der Bahnhof Gmünd) an die neu gegründete Tschechoslowakei abgetreten.

Die Begegnung in Gmünd stellte für das Paar einen Wendepunkt in ihrer Beziehung dar, ist der Kafka-Experte überzeugt. „Er ist noch nach Gmünd gekommen mit der Vorstellung, sie könnten wirklich ein Paar werden. Nach ihrem Treffen sehen beide keine Möglichkeit eines gemeinsamen Lebens, vieles an ihrer Liebe wird gesagt, geschrieben, in großem gegenseitigem Vertrauen und Verständnis, aber letztendlich ungelebt bleiben. Gmünd wird zum Synonym für diesen Wendepunkt.“

„Daß er mich liebt, weiß ich. Er ist zu gut und schamhaft, als daß er aufhören könnte, mich zu lieben. Er würde das als eine Schuld ansehen. Er hält ja immer sich für den, der schuldig ist und der schwach ist. Und dabei gibt es auf der ganzen Welt keinen zweiten Menschen, der seine ungeheure Kraft hätte: diese absolute unumstößliche Notwendigkeit zur Vollkommenheit hin, zur Reinheit und zur Wahrheit. So ist es“, schrieb Jesenska über Kafka in einem Brief an Kafkas Freund Max Brod im Jänner 1921.

Bahnhofsrestaurant Ceske Velenice im Jahr 2020
Samhaber
Das Bahnhofsrestaurant in Ceske Velenice, 2020

Dieses Treffen der beiden Liebenden in Gmünd, der Stadt, die in Kafkas Werken insgesamt 46-mal erwähnt wird, fand ihren Niederschlag in den „Briefen an Milena“, die ebenso wie Kafkas „Briefe an Felice“ und seine „Briefe an Ottla“ zu den großen literarischen Briefdokumenten des vorigen Jahrhunderts gehören.

Kulturwanderung auf den Spuren von Franz und Milena

Bevor der Begegnung von Kafka und Jesenska – als deutschsprachiger Jude und tschechischsprachige Katholikin Symbolfiguren für Verständnis und Liebe in der Überwindung von Grenzen – im Juli 2021 vom Kulturfestival „Übergänge/Prechody“ mit zahlreichen Veranstaltungen ein Denkmal gesetzt wird, findet bereits am Sonntag eine Kulturwanderung auf den Spuren von Kafka und Jesenska statt. Veranstalter sind die Städte Gmünd und Ceske Velenice im Zuge des EU-Kleinprojekts „Mikrokosmos“ und in Kooperation mit der Österreichischen Franz Kafka Gesellschaft.

Das Programm startet um 13.00 Uhr im Haus der Gmünder Zeitgeschichte, um 14.00 Uhr geht es dann über den Fußgängerübergang und die ehemalige Eisenbahnbrücke zum Bahnhof Ceske Velenice. Ab 15.00 Uhr gibt es im Cesko-rakouske komunitni centrum Fenix eine Lesung von Texten von Jesenska und Kafka, ehe ab 16.00 Uhr der Nachmittag musikalisch am Michlplac ausklingt. Auskünfte und Anmeldungen auf der Website der Veranstalter.