Sitzung des Niederösterreichischen Landtags am 10. November 1920 im Niederösterreichischen Landhaus in Wien
Niederösterreichisches Landesarchiv
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Politik

1920: Ein Land erhält seine Landesverfassung

Am Montag ist es genau 100 Jahre her, dass der Landtag von Niederösterreich eine Landesverfassung beschlossen hat. Sie war ein wichtiger Schritt für die Selbstständigkeit des Landes, denn damals waren Niederösterreich und Wien noch nicht getrennt.

Es waren die Christlich-Sozialen, welche die Trennung von Niederösterreich und Wien befürworteten und vorantrieben. Denn seit Mai 1919 hatten die Sozialdemokraten im Landtag die Mehrheit, sie stellten mit Albert Sever auch den Landeshauptmann. Das Bild oben zeigt den Landtag von Niederösterreich-Land – wie der niederösterreichische Teil des gemeinsamen Gebietes damals hieß – am 10. November 1920. An diesem Tag wurde im Parlament das Bundes-Verfassungsgesetz beschlossen.

Eminger: „Es war die Zeit der enormen Not“

Die wirtschaftliche Situation war zwei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs alles andere als rosig, erläutert Stefan Eminger, Leiter der Zeitgeschichteabteilung im Niederösterreichischen Landesarchiv in St. Pölten: „Es ist fraglich, welche Bedeutung die Landesverfassung für die Bevölkerung wirklich gespielt hat. Man muss sich die damalige Situation vor Augen halten: Es entsteht ein neuer Staat, es herrscht enorme Not, es gibt Währungsverfall, eine galoppierende Inflation steht unmittelbar davor. Die Menschen hatten existentielle Probleme und machten sich vermutlich nicht allzu viele Gedanken über Verfassungsfragen.“

Landesgesetzblatt vom 30. November 1920 über den Beschluss der Landesverfassung von Niederösterreich
Niederösterreichisches Landesarchiv
Das Landesgesetzblatt (1. Stück) für das Land Niederösterreich-Land vom 30. November 1920, in dem die an diesem Tag beschlossene neue Landesverfassung veröffentlicht wird

Christian Rapp, Wissenschaftlicher Leiter des Hauses der Geschichte im Museum Niederösterreich in Sankt Pölten, zur damaligen Lage: „In Wien war die Situation extrem prekär: Es gab keine Kohle aus Schlesien und kein Getreide aus Ungarn. Man hatte das Gefühl, man müsse diese für das kleine Land riesige Stadt dauerhaft versorgen. Man sah Wien als Wasserkopf, den man künstlich ernähren müsse, weil er sonst nicht lebensfähig wäre. Das dreht sich aber relativ rasch: Nachdem die ersten Versorgungsengpässe überwunden waren, hat man gesehen, dass diese Stadt über eine enorme Wirtschaftskraft verfügt – nur ist zu diesem Zeitpunkt die Trennung von Wien und Niederösterreich mehr oder weniger schon vollzogen.“

Rapp: „Damit wurde der Föderalismus festgeschrieben“

Die Landesverfassung vom 30. November 1920 war aber erst der erste Schritt zur Trennung von Niederösterreich und Wien. Es folgten in den Monaten darauf zahlreiche harte Verhandlungen, weder die Wiener noch die Niederösterreicher wollten finanzielle Nachteile durch dieses Auseinandergehen akzeptieren.

„Für die Politik hat das bedeutet, dass man nun wirklich selbstständig ist, und es war der erste große Schritt nach außen. Die Christlich-Sozialen und der Bauernbund haben kommunizieren können: ‚Wir sind ein eigenes Bundesland, wir sind Herr im eigenen Haus‘. Das war eigentlich die wichtigste Geste, welche die Landesverfassung nach außen gemacht hat. In Wien war eine Landesverfassung bereits zwei Wochen zuvor beschlossen worden, es wurden also die getrennten Wege deutlich gemacht“, analysiert Stefan Eminger vom Landesarchiv.

Christian Rapp von Haus der Geschichte über die Essenz der Landesverfassung: „Damit wurde der Föderalismus festgeschrieben. Das sah auch die Bundesverfassung vor, dass mit den Landesverfassungen die Bundesländer gestärkt werden und damit auch ein eigenes ‚Verfassungsleben‘ der Bundesländer ermöglicht wird.“

Sitzungssaal des Niederösterreichischen Landtages im Niederösterreichischen Landhaus in Wien 1920er Jahre
Niederösterreichisches Landesarchiv
Der ehemalige Sitzungssaal des Niederösterreichischen Landhauses in der Wiener Herrengasse, bis zur Übersiedlung in die Landeshauptstadt St. Pölten fanden hier die Landtagssitzungen statt

Harte Verhandlungen bis zum letzten Tag

Bis alle Fragen geklärt und geregelt waren, dauerte es aber noch 13 Monate. Das sogenannte Trennungsgesetz wurde am 29. Dezember 1921 beschlossen, doch erst am Silvestertag des Jahres 1921 einigte man sich, was die Aufteilung von gemeinsamen Vermögen, Liegenschaften und Gebäuden betraf. Zur endgültigen Trennung von Niederösterreich und Wien kam es einen Tag später, am Neujahrstag des Jahres 1922.

Die am 30. November 1920 beschlossene Landesverfassung galt übrigens bis Ende 1978. Im Herbst dieses Jahres beschloss damals der Landtag von Niederösterreich eine neue Landesverfassung, die seit 1. Jänner 1979 bis heute gültig ist.

100 Jahre Verfassung: „Reflexion und Herausforderung“

Anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums des Beschlusses der Landesverfassung ist die Publikation „Reflexion und Herausforderung“ erschienen, herausgegeben von der Niederösterreichischen Landtagsdirektion. In dem 110-Seiten-Buch schrieben u.a. der Verfassungsrechtler Peter Bußjäger über „Die Entstehung des österreichischen Bundesstaates im internationalen Vergleich“ und der ehemalige Landtagsdirektor Karl Lengheimer über „100 Jahre Landesverfassung – vom politischen Ordnungsstaat zum sozialen Leistungsstaat“, Peter Parycek, der E-Governance-Experte an der Donau-Universität Krems, machte in seinem Text eine „Reise in die digitale Zukunft des Verwaltungs- und Verfassungsrechts“. Interessenten an dieser Publikation können sich an die Landtagsdirektion wenden – Mail an Landtagsdirektion.