donaufestival 2021 Ghostpoet Messegelände/Halle 1
David Visnjic/donaufestival
David Visnjic/donaufestival
Kultur

donaufestival setzt auf Gegenaneignungen

Das donaufestival macht von 29. April bis 8. Mai eine Entdeckungsreise zu unbekannten Ufern. Im Fokus des vielfältigen Musik-, Performance- und Kunstreigens in Krems stehen „Gegenaneignungen“ – unter dem Titel „Stealing The Stolen“.

„Das Thema der Gegenaneignungen oder counter appropriation, wie wir es genannt haben, hatten wir schon länger im Kopf“, sagte Festivalintendant Thomas Edlinger im Interview mit der Austria Presse Agentur. „Der Ausgangspunkt ist natürlich die Kritik an der cultural appropriation, die momentan viel diskutiert wird. Also kulturelle Aneignung als Diebstahl, als illegitime, ausbeuterische oder distinktionsgewinnerische Praxis einer Aneignung von oben.“ Zwar sei die Kritik nachvollziehbar, doch sieht Edlinger dabei das Problem, dass man von einer „geschlossenen Kultur oder einer Essenz von Kultur überhaupt“ ausgehe.

„Was wäre es denn, etwas Gestohlenes zu stehlen?“

Eine solche Festschreibung sei seiner Ansicht nach aber unzulänglich, wie etwa die zeitgenössische Praxis der Musik zeigt. „Wir wollten mit dem Festival erkunden und Beispiele dafür aufzeigen, wie Aneignungspraktiken eine emanzipative Stoßrichtung bekommen können“, so Edlinger, der sich damit auf Gegenaneignungen „von unten“, also von jenen, denen Macht üblicherweise abgesprochen wird, oder „von anderswo“, beispielsweise dem globalen Süden oder Osten, bezieht. Aber auch der „selbst fragmentierte Begriff vom Westen“ werde hier mitbetrachtet.

700 Bliss
Isha Dipika Walia
Das Duo „700 Bliss“

So sei man auch zum Festivaltitel gekommen: „Was wäre es denn, etwas Gestohlenes zu stehlen?“, formulierte es Edlinger. „Kann man das überhaupt noch als Diebstahl bezeichnen? Oder ist es eine Praxis, die im Fluss ist?“ Im Programm finden sich diese Gedankengänge auf verschiedene Weisen abgebildet: So zeigt sich etwa Musikerin Soap&Skin „in sheep’s clothing“, wie ihr Auftritt am 29. April übertitelt ist, und interpretiert ausschließlich fremde Songs. Oder die Gruppe 75 Dollar Bill am Tag darauf, die sich seit jeher mit unterschiedlichen Partnern zusammentut und somit von afrikanischen Rhythmen bis zum Minimalismus des No-Wave verschiedene Einflüsse verknüpft.

Kriegsmetaphorik im Alltag

Mit einem kleinen Schwerpunkt ist der Künstler Julian Warner vertreten: Er ist nicht nur als Fehler Kuti – eine Anlehnung an die Afrobeat-Größe Fela Kuti – im Musikprogramm mit einem äußerst politischen Duktus vertreten (29. April), sondern am ersten Festivalwochenende mit dem Performance-Auftragswerk „The Kriegsspiel“ zugegen – eine nicht zuletzt aufgrund des Krieges in der Ukraine höchst aktuelle Arbeit.

Julian_Warner: The Kriegsspiel (Installation) Keyfoto
United States Marine Corps/Public Domain
Julian Warner: „The Kriegsspiel“

„Die Idee zum Werk entstand aber schon lange davor“, gab Edlinger zu bedenken. „Im Prinzip geht es um militärische Sandkastenspiele, die immer wieder für die militärische Planung herangezogen wurden. Diese werden von Julian Warner als eine Art Ideen- und Zeichenreservoir aufgefasst für verschiedene Übertragungen und Aneignungen der Kriegsmetaphorik in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Man denke nur an den Krieg gegen die Pandemie.“

Über Minderheiten und Trauergefühle

Auf eine lange Entwicklungsphase kann auch Ariel Efraim Ashbel zurückblicken, der „Fire Walk With Me“ eigentlich bereits 2020 zur Uraufführung bringen hätte sollen, was aber die Coronavirus-Pandemie verhinderte. Nun bevölkert er am zweiten Festivalwochenende mit seinem Team die Kremser Dominikanerkirche, die er als Horror und Komödie bedienenden Zwischenraum inszeniert. Und dieser will ausgiebig erkundet werden, hat Ashbel seine Arbeit doch als sechsstündiges Spektakel mit verschiedenen Wendungen und Höhepunkten angelegt.

Ariel Efraim Ashbel
Hebbel am Ufer
Ariel Efraim Ashbel

Das Konzept von Minderheiten stellen Kids of the Diaspora mit „Nothing Can Cross Our Spirit“ am ersten Wochenende zur Diskussion, wobei dieser Austausch an einer Bar mit reichlich Rum vonstattengehen soll. Ula Sickle wiederum lässt ihre Performer in „The Sadness“ (erstes Wochenende) ein wohl derzeit allgegenwärtiges Taubheits- und Trauergefühl ausleben, während sich Nomcebisi Moyikwa in „Somewhere Me“ (zweites Wochenende) auf die Suche nach dem Lebendigen und neuen Wissensformen begibt.

Balance zwischen Krach und Intensität

Die Musikschiene zeichnet eine relativ ausgewogene Balance zwischen Krach und Intensität feiernden Experimenten sowie nachvollziehbareren Popformaten aus. Der britische Produzent Helm zeigt sich von seiner unbarmherzigen Seite, 700 Bliss bringt Avantgardeikone Moor Mother mit DJ Haram zusammen, und die venezolanische Künstlerin Arca ist mit ihrer aktuellen Albumreihe „kick“ ohnehin in allen Feldern der zeitgenössischen, elektronisch unterfütterten Klangerzeugung zuhause.

Rapmusik als durchaus zukunftsweisendes Konzept präsentieren Shabazz Palaces, Savages-Sängerin Jehnny Beth stellt ihr hervorragendes, weit über Postpunk hinausreichendes Soloalbum „To Love Is To Live“ vor, und der Pariser Elektronikmusiker Aho Ssan hat mit „Rhizomes“ ein Auftragswerk für das Festival am Start.

Aho Ssan
Marvin Jouglineu
Aho Ssan

Ergänzt wird all das nicht nur in bewährter Weise von einem Ausstellungsprogramm, sondern dem unter Edlinger verstärkt forcierten Diskursangebot mit Talks und Filmen sowie dem ebenfalls begleitend erscheinenden Reader. Zudem gibt es heuer das Research Lab „What Is Left To Steal“, das im Forum Frohner seine Zelte aufschlägt. Verantwortlich dafür ist Kulturwissenschafter Diedrich Diederichsen mit seinen Studierenden des „Master in Critical Studies“-Programms an der Akademie der bildenden Künste in Wien.

Festival als „Zeichen der Normalität“

Was Einschränkungen durch die Pandemie betrifft, zeigte sich Edlinger optimistisch. Schon die Planungen seien einfacher gewesen als bei der im Vorjahr abgehaltenen Herbstausgabe. „Im Gegensatz zum Oktober mussten wir auch nicht mit spezifisch auf Abstandsregeln abzielenden Alternativformeln operieren, vor allem im Performance- und Musikbereich. Wir haben also entschieden, möglichst nah an ein reguläres Festival heranzukommen – auch um ein Zeichen einer hoffentlich wieder zu erlangenden Normalität zu setzen. Wir sind noch immer guten Mutes, dass wir das so umsetzen können.“ Nachsatz: „Aber man sollte wohl gute Nerven behalten.“