Drohnenansicht der Schallaburg
ALEXANDER KAUFMANN
ALEXANDER KAUFMANN
Kultur

Die unbekannten Spuren der Reiternomaden

Mittelalterliche Reiternomaden als brandschatzende Horden – mit diesem lückenhaften Bild will die Schallaburg aufräumen. Eine aktuelle Schau zeigt Hunnen und Co. als spezialisierte Völker, die Europas Geschichte maßgeblich mitgeprägt haben.

Die nomadische Lebensweise der Hunnen, Awaren, Bulgaren und Ungarn war geprägt von ihrer hochspezialisierten Anpassung an das Leben in ökologischen Nischen. Dafür brauchten die Reiternomaden Europas großes Wissen und zahlreiche Fähigkeiten, das sie immer weiter Richtung Westen führte. Heute weiß man: „Auch die Steppengesellschaften aus Osteuropa und der eurasischen Grassteppe haben einen wesentlichen Teil zur Entwicklung Europas beigetragen“, ist in der Ankündigung der neuen Ausstellung auf der Schallaburg (Bezirk Melk) zu lesen.

Unter dem Titel "Reiternomaden in Europa – Hunnen, Awaren, Bulgaren, Ungarn“ wirft die Schau einen völlig neuen und wesentlich breiteren Blick auf ein Stück europäische Geschichte und Kultur, die in der öffentlichen Wahrnehmung bislang zu kurz kamen, so die beiden Kuratoren, Falko Daim und Dominik Heher.

„Dieser Teil der Geschichte geht uns alle an“

Es ist eine jahrhundertelange Geschichte, der Besucherinnen und Besucher auf ihrem Weg durch die Schallburg folgen, so Daim und Heher. Sie führt entlang der Spuren der Nomaden des Donauraums beginnend von ihrem Ankommen in Europa im vierten Jahrhundert bis in die Gegenwart. Auf diesem Weg sei man eingeladen, „die vermeintlich ‚wilden Horden‘ mit anderen Augen“ kennenzulernen – veranschaulicht durch beeindruckende Funde sowie Illustrationen von Martin Stark.

Falko Daim zufolge wurde der Osten Österreichs vom vierten bis ins zehnte Jahrhundert von Steppenkriegern und Steppengesellschaften sogar dominiert und in den ebenen Regionen auch bewohnt. "Das ist unsere Vergangenheit. Es war an der Zeit, diese Völker in ihrer Diversität im Zuge einer Ausstellung zu präsentieren. Dieser Teil unserer Geschichte geht uns alle an.“ So fand man nicht Hinweise auf Siedlungen, sondern vor allem teils sehr reiche Gräber mit Kleidungsaccessoires und Beigaben sowie allerlei vergrabene Schätze.

Bildnis der Ankunft Attilas
Martin Stark
Eine der bekanntesten Figuren der Reiternomaden: König Attila, hier skizziert bei einem Empfang mit seinen Hunnenkämpfern

Manche Spuren bleiben unergründlich

Weil das Klima der Steppe weder intensiven Ackerbau noch ganzjährige Viehhaltung an einem Ort erlaubte, gab es schon in der Jungsteinzeit erste Nomaden, die ihre Herden von Weideplatz zu Weideplatz führten. Sie erzeugten fast alles, das sie benötigten, selbst. Ihre Herden dienten als Nahrung, auch Fell, Knochen und Horn wurden verarbeitet. Die Reiternomaden hatten sich auf das Leben in der Steppe spezialisiert. Weil sie Rohstoffe umsichtig nutzten und nur besaßen, was sie transportieren konnten, hinterließen sie wenig sichtbare Spuren. Sie führten ein Leben in Bewegung und legten mit ihren (Reit-)Tieren oft hunderte Kilometer pro Saison zurück.

Die Steppengebiete Eurasiens – die Ursprungsregion der Reiternomaden – sind das Bindeglied zwischen Asien und Mitteleuropa. Die ersten Nomaden kamen nicht nur als Krieger nach Europa, sondern auch als Händler, Hirten und Siedler.

Gleich zu Beginn der Ausstellung lernt man die vier dort herausgearbeiteten Völker kennen, denen die Ausstellung laut Aussendung gewidmet ist: „Von den Hunnen mit ihrem charismatischen Kriegsherren Attila bis zu den Awaren, deren Reich sich an seinem Höhepunkt von Niederösterreich bis ins heutige Rumänien erstreckte; von den Bulgaren, die mit Inschriften, riesigen Erdwällen oder ganzen Städten deutliche Spuren hinterließen bis zu den frühen Ungarn, deren Königreich zum Vorläufer des heutigen ungarischen Staates wurde“.

Fotostrecke mit 4 Bildern

Schläfenschmuckpaar
Rheinisches Bildarchiv Köln/ Foto: Anja Wegner
Dieses mit Glöckchen verzierte Schläfenschmuckpaar der Hunnen stellt Tiere mit schlangenartigem Körper dar. Exemplare wie diese fanden sich in reich ausgestatteten Frauengräbern zwischen unterer Donau über das nördliche Schwarzmeergebiet, das Kaukasusvorland bis nach Zentralasien
Diadem aus Gold
Germanisches Museum Köln/Anja Wegner
Vieles, von dem, was man über die Reiternomaden heute weiß, basiert auf archäologischen Funden. Hier abgebildet ist ein goldenes Diadem, eine Leihgabe aus dem Römisch-Germanischen Meusum in Köln
Gürtelbeschlag
Móra Ferenc Múzeum/Izabella Linczer-Katkó
Schmuck und Kleidung waren weit mehr als Zierde. Bei den Hunnen wurde vor allem Gold zur Schau gestellt, bei den Ungarn waren Kleidung, Zaumzeug und Schmuck, vor allem aber Waffen unverzichtbare Statussymbole der Elite. Hier zu sehen, ein Gürtelbeschlag
Hauptriemenzunge mit dargestellter Jagdszene
Damjanich János Múzeum/Ferenc Simon

Die meisten der Spuren, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern heute Aufschluss über die Nomaden geben können, beruhen auf archäologischen Funden. Denn trotz aller Entwicklung hatten die Nomaden keine Schriftkultur. Weil ihr Hab und Gut fast nur aus organischem Material bestand und feste Gebäude sowie steinerne Monumente selten waren, bleiben viele ihrer Spuren bis heute verschwunden und viele ihrer Lebensweisen ein Geheimnis.

„Was wir über sie wissen, verdanken wir zum Großteil der archäologischen Forschung. Heute stehen die frühmittelalterlichen Nomadenkulturen Europas mehr denn je im Interesse der internationalen Forschung. Mit feinerer Technologie und Methodik werden neue Daten gewonnen und alte Funde neu interpretiert“, heißt es.

Ein Leben zwischen Pferd und Statusverhandlungen

In der Welt der Nomaden mit ihren vielen verschiedenen Sprachen war die Körpersprache von besonders großer Bedeutung. Aber auch durch Gesten, Kleidung und Frisur kommunizierten die Reitervölker miteinander. Bildmotive spielten in der riesigen Steppe mit ihren hunderten Sprachen ebenfalls eine wichtige Rolle. Manche dieser bildlichen Codes brachten die Nomaden mit, andere lernten sie in Europa kennen. Heute sind fast nur noch Motive auf Objekten aus Metall erhalten.

Die Reitervölker suchten stetig den Kontakt zu Sesshaften. Ihre Erzeugnisse tauschten sie gegen Dinge, die sie selbst nicht herstellen konnten oder gegen Rohstoffe, die es in der Steppe nicht gab. Die Macht der Anführer basierte auf persönlichen Beziehungen, die ständig neu verhandelt werden mussten. „Deshalb galt: Darstellung ist alles. Jeder Auftritt war von Bedeutung. Es wurde genau beobachtet, welche Kleidung und welcher Schmuck getragen wurde, wer beim Bankett wo saß oder wer voran ritt. Bei den Hunnen wurde vor allem Gold zur Schau gestellt, bei den Ungarn waren Kleidung, Zaumzeug und Schmuck, vor allem aber Waffen unverzichtbare Statussymbole der Elite“, ist in der Ankündigung der Schau zu lesen.

Ausstellungsraum in der Schallaburg
Schallaburg/Klaus Pichler
Kleidung, Frisur, Schmuck und Waffen als Kommunikationsmittel: Nichts davon trugen die Reiternomaden zufällig

Ausstellungshinweis

Die Ausstellung "Reiternomaden in Europa – Hunnen, Awaren, Bulgaren, Ungarn“ ist auf der Schallaburg von 9. April bis 6. November 2022, montags bis freitags von 9.00 bis 17.00 Uhr sowie an Wochenenden und Feiertagen von 9.00 bis 18.00 Uhr zu sehen. Zur Ausstellung ist ein Katalog (169 Seiten, 29 Euro) erschienen.

Europa: „Keine Insel der Seligen“

Wie es kam, dass Hunnen und Awaren wieder verschwanden, während Bulgaren und Ungarn blieben, wie ihr Weg vom Reiternomadentum zur Sesshaftigkeit führte, wie sich fremde Gesellschaften über Kultur- und Sprachgrenzen hinweg verständigten und aufeinander zubewegten und wo die Errungenschaften und Spuren der multikulturellen Nomadenvölker bis heute nachwirken – diese Fragen beantwortet die Ausstellung bis November.

Kurator Dominik Heher nannte als Ziel der diesjährigen Schau, Wissenslücken schließen und Vorurteile gegenüber den Reiternomaden ausräumen zu wollen. „Das Bild der Horden aus dem Osten, die Europa überfallen, ist überholt“, stattdessen wolle man „das Bild der nomadischen Völker in das richtige Licht rücken. Krieg und Konflikt war natürlich ein Aspekt. Aber eben nur einer von vielen.“ Zudem werde einmal mehr ersichtlich, dass Europa „keine Insel der Seligen ist“, heißt es: „Die einzige Konstante der europäischen Geschichte sind Mobilität und Migration.“