Hermine Jirak
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„GANZ PERSÖNLICH“

Hermine Jirak: Mit 102 Jahren unerschütterlich

In Niederösterreich leben mehr als 200 Menschen, die mindestens 100 Jahre alt und damit älter als das Bundesland sind. Hermine Jirak (102) ist eine von ihnen. Ein Gespräch über das Geheimnis des Alters, eine Kindheit in Armut und den Krieg in der Ukraine.

Hermine Jirak kommt 1920 in Sumperk (Mährisch-Schönberg) im heutigen Tschechien auf die Welt. Sie macht die Ausbildung zur medizinisch-technischen Assistentin und zieht nach Wiener Neustadt, wo sie ihren Mann kennenlernt. Jirak hat zwei Kinder, sechs Enkelkinder und sieben Urenkelkinder und lebt in ihrem Haus in Markt Piesting (Bezirk Wiener Neustadt).

Mit ihrem Mann Leopold Jirak, der 102 Jahre alt wurde, war sie 76 Jahre verheiratet. Kennengelernt hatten sich die beiden in der Arbeit im Wiener Neustädter Krankenhaus, in dem Leopold Jirak Arzt war und Hermine Jirak als medizinisch-technischen Assistentin arbeitete. Im Dezember 2015 feierten die beiden ein ganz besonderes Jubiläum: ihre Kronjuwelenhochzeit nach 75 Ehejahren. Zur Feier reiste das Ehepaar selbst an: Am Steuer saß die damals 95-jährige Jubilarin, am Beifahrersitz ihr 101-jähriger Gatte.

noe.ORF.at: Frau Jirak, wie wird man 102 Jahre alt?

Hermine Jirak (lacht): Mit einer glücklichen Kindheit und mit einer glücklichen Ehe. Geboren bin ich in Nordmähren, nach der Matura bin ich nach Wiener Neustadt gekommen und habe dort begonnen, im Krankenhaus zu arbeiten. Da haben sie nur die besten genommen. Dort habe ich dann auch meinen Mann kennengelernt. Das war mein Glück im Leben.

noe.ORF.at: Ihre Kindheit war also eine besonders schöne Zeit?

Jirak: Naja, die 30-er Jahre waren schon arg, weil wir kein Geld hatten. Auch die Eltern konnte mir keines geben, weil wir damals kein Geschäft gemacht haben mit unserem kleinen Hotel und dem Gasthaus. Das Hotel ist besser gegangen als das Gasthaus, sodass wir davon leben konnten, aber die Zeit war nicht üppig.

Unterwegs in Österreich: Lebensgeschichten – 100-Jährige in Niederösterreich

Niederösterreich feiert heuer sein 100-jähriges Bestehen als eigenes Bundesland, nach der Trennung von Wien und Niederösterreich im Jänner 1922. In den Folgejahren wird Niederösterreich geprägt vom Nachkriegselend des 1. Weltkrieges, der Naziherrschaft, dem zweiten Weltkrieg und danach vom Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und Fortschritt. 1986 erhielt Niederösterreich mit St. Pölten die eigene Landeshauptstadt.

noe.ORF.at: Wie haben Sie den Zweiten Weltkrieg erlebt?

Jirak: Traurig. Mein Mann ist nach sechs Wochen eingerückt und musste nach Russland – in die heutige Ukraine. Vor Stalingrad wurde er verletzt. Da wollten man ihm bei Minus 27 Grad Kälte das Bein eingipsen. Weil er das nicht hat machen lassen, aus Angst, dass ihm dadurch das Bein abfrieren würde, ist er dort herausgekommen. Ich musste arbeiten, aber nach zwei Jahren habe ich ein Kind bekommen und war danach zu Hause bei meiner Tochter. Heuer wird sie 80!

noe.ORF.at: Niederösterreich war unter russischer Besatzung. Sie sind daraufhin mit ihrer kleinen Tochter nach Innsbruck geflohen. Hatten Sie Angst?

Jirak: Ja! Mein Mann war damals in Melk und hat zu mir gesagt: „Du kannst nicht bleiben!“ Nachdem ich mit meiner Tochter nach Innsbruck aufgebrochen bin, habe ich ein halbes Jahr lang nichts von meinem Mann gehört. Im Zug wurden unsere Koffer gestohlen. Wir hatten also wirklich nichts dort. Wir waren so arm, wir hatten nicht einmal Kleidung zum Wechseln. Es war eine traurige Angelegenheit, aber wir haben es geschafft.

noe.ORF.at: Wenn Sie jetzt Bilder aus der Ukraine und vom Krieg dort sehen: Wie geht es Ihnen dabei?

Jirak: Es ist so traurig und es tut mir so leid. So arg war es bei uns in den Städten nicht. Sie haben zwar Melk bombardiert, aber da gab es einen Luftschutzkeller, in den ich immer gelaufen bin. Später sind die Tiefflieger gekommen, und als da die Leute auf der Straße einfach abgeknallt wurden, hatte ich schon sehr Angst.

Hermine Jirak im Gespräch mit Eva Steinkellner-Klein
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Im Interview mit Eva Steinkellner-Klein blickt Hermine Jirak (re.) auf mehr als 100 Jahre zurück, die Glück und Krisen brachten

noe.ORF.at: Was war Ihre schönste Zeit?

Jirak: Meine Ehe!

noe.ORF.at: Sie waren ja unglaubliche 76 Jahre mit Ihrem Mann verheiratet. Wie schafft man das?

Jirak: Manchmal habe ich mich das auch gefragt, und er wahrscheinlich auch (lacht). Mein Mann war sehr vernünftig. Ich hingegen war nicht so vernünftig wie er, ich war sechs Jahre jünger. Naja, wir haben es immer geregelt!

noe.ORF.at: Ihr Mann ist ja auch sehr alt geworden, 102 Jahre. Was ist Ihr Geheimnis?

Jirak: Wenig essen (lacht)! Jetzt ist es ja modern, nicht zu viel Süßigkeiten zu essen. Wir konnten das ja gar nicht, weil es im Krieg keine gab. Wichtig war auch viel Bewegung: Radfahren, Rodeln und auch Tennis.

noe.ORF.at: Gibt es etwas, das Sie der jüngeren Generation raten würden?

Jirak: Ähnliche Prinzipien, nach denen ich meine Kinder erzogen habe: Lernen! Das war unser Prinzip, ebenso wie Sport und Bewegung. Ich habe auch immer geschaut, dass sie gute Gesellschaft haben und damit hat es funktioniert.

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Hermine und Leopold Jirak
privat
Hermine und Leopold Jirak waren 76 Jahre verheiratet
Hermine und Leopold Jirak
privat
Besonders schwierig für das Ehepaar war der Zweite Weltkrieg. Ein halbes Jahr hatten die Jiraks keinen Kontakt zueinander

noe.ORF.at: Ein großer Einschnitt in unsere Zeit ist die Pandemie. Was hat sie für Sie bedeutet?

Jirak: Es war schon sehr einsam, wenn man niemanden einladen konnte, aber ich habe mich immer an alles gehalten. Ich bin geimpft und habe auch immer die Maske getragen.

noe.ORF.at: Sie erleben durch das Coronavirus schon die zweite Pandemie – nach der Spanischen Grippe.

Jirak: Ich hatte Glück! Das hat auch meine Mutter immer betont und war froh, dass ich nicht früher geboren wurde. Sie sagte immer: „Bei der Spanischen Grippe ist man nicht leicht davongekommen.“ Man hatte damals ja nichts gegen die Krankheit und keine Medikamente. Da ist es jetzt schon viel besser, das kann man gar nicht vergleichen. Wir werden umsorgt vom Staat. Wenn das irgendjemand nicht so findet, kann ich das wirklich nicht verstehen.

noe.ORF.at: Sie kann nichts erschüttern, oder?

Jirak: Nein, nicht so leicht.

noe.ORF.at: Ist Ihr hohes Alter ein Segen?

Jirak: Mit dem Stock wird es jetzt langsam ein bisschen mühsam. Ich bin gestürzt und habe mich verletzt. Seither bin ich sehr ängstlich, aber ich bin zufrieden. Ich wünsche mir gar nichts mehr. Ich wünsche mir nur, gesund zu sterben.