Kulturerbe Knick in Kirche
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Warum manche Kirchen einen Knick haben

Sehr viele Kirchen in unserem Land sind nach Osten oder Südosten ausgerichtet, hin zu einem „himmlischen Jerusalem“. Oft wurde der Altarraum später errichtet und die Ostung musste korrigiert werden. So ergab sich ein Knick in der Längsachse der Kirche.

Die Sonne geht auf über Stift Heiligenkreuz im Wienerwald. Wie viele andere Kirchen auch, ist die Basilika des Stiftes nach Osten hin orientiert, nach der aufgehenden Sonne, dem Symbol für den auferstehenden Christus. Nach diesem Konzept wurde der Bau der Kirche ausgerichtet, und zwar im Jahr der Errichtung 1133, als die Baumeister des Mittelalters mit Pflöcken die Kirchenumrisse abgesteckt haben.

Die Längsachse des Langhauses, also dort, wo das Kirchenvolk sitzt, ist auf die aufgehende Sonne des Palmsonntages des Jahres 1133 hin gebaut worden, der Altarraum oder auch Chor genannt gegen Ostersonntag 1133. Weil der Sonnenstand sich ändert, ergibt sich eine leichte Verschiebung der Mauern und damit ein Knick in der Längsachse. Wer in der Kirchenbank sitzt, dem kann diese Ostung als Knick im Kirchenschiff auffallen. Wem also das Kircheninnere leicht gekrümmt wie eine Banane erscheint, der täuscht sich nicht.

Dom in Wiener Neustadt hat zwei „Programme“

Bauingenieur Ernst Reidinger aus Winzendorf (Bezirk Wiener Neustadt) vermisst und erforscht diese Zusammenhänge seit rund 20 Jahren. Er zeigt das Programm des Wiener Neustädter Doms. Wiener Neustadt ist am Reißbrett entstanden. Der Dom schneidet die Westachse der Gründerstadt genau in der Mitte.

Bauingenieur Ernst Reidinger erklärt den Knick

Bauingenieur Ernst Reidinger zeigt und erklärt das Programm des Wiener Neustädter Doms

Die Orientierung des Langhauses entspricht der weltlichen Macht, die Ausrichtung des Altarraumes ein Jahr später der himmlischen Macht: Pfingsten 1192 und Pfingsten 1193 – da sich der Sonnenstand zwischen diesen beiden Daten erheblich unterschied, ist der Knick auch mit freiem Auge erkennbar.

Der Altarraum rückt vom Kirchenvolk aus betrachtet nach rechts, sogar so stark, dass die rechte Säule in der Vierung ausgeschnitten werden musste, damit der Altar für die rechts sitzenden Gottesdienstbesucher sichtbar bleibt.

Leben und Glauben als Einheit im Mittelalter

Bei der Pfarrkirche von Muthmannsdorf (Bezirk Wiener Neustadt) ist der Achsknick schon aus dem Luftbild sehr gut erkennbar. Der Altarraum ist auf den Patroziniumstag Peter und Paul in verschiedenen Jahren ausgerichtet, ein seltener Fall der Datumssymbolik, erklärt Reidinger: „Die erste Orientierung des Langhauses ist zu Peter und Paul geschehen, im Jahr 1136. Der Chor ist auf den 9. Sonntag nach Pfingsten ausgerichtet. Die Nordwand bezieht sich auf den siebenten Sonntag, die Südwand auf den 8. Sonntag. Somit ergibt sich folgende Zahlenmystik: 7 ist die Zahl der Vollkommenheit, 8 die Zahl des Neubeginns und 9 das göttliche Geheimnis.“

Eine verblüffende Symbolik, die im Mittelalter selbstverständlich war, wie Erwin Reidinger weiter ausführt: „Wenn man sich mit dem Mittelalter beschäftigt, muss man umdenken. Leben und Glauben waren eine Einheit. Die himmlische Welt wurde genauso real wahrgenommen wie die irdische. Und diese Vorstellung haben die Baumeister der Kirchen in ihren Bauten umgesetzt.“

Pfarrkirche Muthmannsdorf aus der Vogelperspektive

Bei der Pfarrkirche von Muthmannsdorf ist der Achsknick schon aus dem Luftbild sehr gut erkennbar.

Ein genaues Hinschauen von der Kirchenbank aus lohnt

Bei der kleinen mittelalterlichen Kirche von Maiersdorf (Bezirk Wiener Neustadt) an der Hohen Wand ist das Langhaus auf den Karfreitag des Jahres 1139 ausgerichtet, der Chorraum auf den Ostersonntag desselben Jahres, deshalb ist die Abweichung gering. Man sieht aber, dass der barocke Altar weiter rechts steht, er wurde aus der Längsachse des Chores gerückt, damit sich für die Kirchgänger ein harmonischeres Bild ergibt.

Ob Stift Heiligenkreuz, die Basilika Mariazell im Wienerwald, die Pfarrkirchen von Marchegg (Bezirk Gänserndorf) oder Laa an der Thaya (Bezirk Mistelbach), viele der romanischen oder gotischen Kirchen in Niederösterreich weisen diesen Achsknick auf. Man muss nur das Auge ein wenig schulen, um ihn zu erkennen. Dieser Knick ist ein in Stein gehauenes theologisches Manifest.