Ulrich Seidl Regisseur Filmemacher
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„GANZ PERSÖNLICH“

Seidl über Antihelden und „echte Menschen“

„Rimini“ ist der neue Film des niederösterreichischen Regisseurs Ulrich Seidl. Er zeigt einen „Antihelden“, den Schlagersänger Richie Bravo. Im Interview spricht er über den Reiz von gescheiterten Filmfiguren, ambivalente Geschichten und geschönte Wirklichkeiten.

Ulrich Seidl ist Filmregisseur, Drehbuchautor und Produzent. Seinen großen Durchbruch hatte der 69-Jährige mit dem Film „Hundstage“. Für seine Arbeit wurde Seidl 2001 bei den Filmfestspielen von Venedig mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet. Seidl hat zwei Söhne und lebt in Wien und in Drosendorf (Bezirk Horn).

In seinem neuen Film „Rimini“ erzählt der 69-Jährige von einem gescheiterten Schlagerstar, der im winterlichen Rimini (Italien) vor Bustouristen singt und sich für spezielle Extradienste bezahlen lässt. Im Gespräch mit Eva Steinkellner-Klein spricht der Regisseur über seine Kindheit, über Schönheit und was seine Filmcharaktere ausmacht.

noe.ORF.at: Der Protagonist Ihres neuen Filmes, Richie Bravo, ist ein verunglückter Charakter, wie sie ja oft bei Ihren Filmen vorkommen. Woher kam die Idee, die Geschichte eines Schlagersängers in Rimini zu erzählen?

Ulrich Seidl: Ich finde ja gescheiterte Filmfiguren viel interessanter als jene, die nicht gescheitert sind. Es ist viel interessanter, einen Antihelden zu haben, den Richie Bravo, der auf der einen Seite viele Abgründe und sonderbare Eigenschaften hat, der sein Leben nicht so richtig auf die Reihe bekommt, der aber tagtäglich um seine Würde kämpft, und es ist natürlich auch so, dass er noch eine andere Seite hat. Wenn er vor einer Fangemeinde auftritt und da seine Schlager singt, dann ist er der Held, das Idol. Es ist also eine ambivalente Geschichte.

noe.ORF.at: Mögen Sie Ihre Filmfiguren? Gerade Richie Bravo ist so eine versoffene Figur, spielsüchtig und mit einer komplizierten Vater-Tochter-Beziehung.

Seidl: Man würde ja nicht einen Film über jemanden machen, den man nicht mag, das hat überhaupt keinen Sinn. Zu sehen, wie ein Mensch um seine Würde und seine Existenz kämpft und auch immer wieder daran scheitert, das finde ich interessant. Er hat auch viele Eigenschaften, die vielen von uns nicht ganz unbekannt sind, wahrscheinlich stärker ausgeprägt. Letztlich ist er auch ein sehr sympathischer Mensch, sonst würde der Film ja nicht funktionieren.

noe.ORF.at: Sie entlassen die Zuschauer ein bisschen hoffnungslos und trostlos. Es nimmt ja kein gutes Ende.

Seidl: Da muss ich Ihnen widersprechen. Die Frage ist, was ist Trostlosigkeit und was ist Schönheit? Die andere Seite wäre ein Rimini im Sommer, mit überfüllten Stränden und mit zehntausenden Urlaubern in ihren Liegestühlen unter den Sonnenschirmen in Reih und Glied, in einer Sonne, die unangenehm ist, mit Lärm und Geschmack, das ist ein Sehnsuchtsort. Da fragt man sich: Ist das Schönheit? Für mich liegt im winterlichen Rimini eine Schönheit. Diese Verlassenheit, die leeren Strände in Nebel getaucht. Da kommt man auch eher zu sich als in dem Getümmel und in dem Getriebe. Es passt außerdem sehr gut zu dieser Geschichte.

Ulrich Seidl Regisseur Filmemacher Eva Steinkellner-Klein
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Regisseur Ulrich Seidl im Gespräch mit Eva Steinkellner-Klein über Sexszenen, Trostlosigkeit und den Filmclub Drosendorf

noe.ORF.at: Wo fahren Sie eigentlich gerne auf Urlaub hin?

Seidl: Ich fahre meistens gar nicht auf Urlaub. Meine Urlaube sind Arbeitsurlaube. Ich empfinde es als Privileg, Länder aufgrund von Recherchearbeiten zu bereisen. Ich bereite meine Filme sehr genau vor. Ich war zwei Jahre immer wieder in Rimini, um den Ort kennenzulernen, die Schauplätze zu finden oder das Licht zu erfahren. Rimini ist ja nur stellvertretend für einen Ort an der Adria.

noe.ORF.at: Bei Ihren Drehs wird ja viel improvisiert und das gibt Ihren Filmen so eine TV-Doku-Anmutung. Bei Ihnen müssen die Schauspieler ja keine Drehbücher lernen. Stimmt das?

Seidl: Ja, die Schauspieler bekommen keine Drehbücher. Die Schauspieler lernen, wer sie sind, welche Rolle sie verkörpern, welche Eigenschaften sie haben, was sie wann sagen müssen. Das muss sein, weil der Film sonst nicht funktioniert. Es bedarf Schauspielerinnen und Schauspieler, die das auch können und die wenigsten können das. Es ist also schwierig für mich, die richtigen Schauspieler zu finden.

Das Ensemble ist besetzt von professionellen und nicht professionellen Schauspielerinnen und Schauspielern. Dadurch erreicht man auch eine Intensivität in den Szenen, mit der man vielleicht nicht gerechnet hat. Wenn die Schauspieler allerdings ihren Text auswendig lernen, wird es viel künstlicher.

Weil Sie meinten, meine Filme sind quasi dokumentarisch, ja das sind sie, sie sind Spielfilme, aber sie sind sehr authentisch. Vor der Kamera agieren echte Menschen. Als Zuschauer denkt man, den oder die kenne ich ja, weil es so echt ist.

noe.ORF.at: Sie waren mit all Ihren Filmen in den letzten Jahren bei internationalen Festivals vertreten. Ist Ihnen das wichtig? Sind Sie ehrgeizig?

Seidl: Es geht ums Geschäft. Jeder Filmemacher will, dass seine Filme zum Publikum kommen und erfolgreich sind, und dafür braucht man einen guten Start, am besten bei einem der A-Festivals, also Venedig, Berlin oder Cannes. Denn dann kann man die Filme europaweit oder weltweit verkaufen.

noe.ORF.at: Mögen Sie den roten Teppich?

Seidl: Nicht so gern. Ich müsste das nicht haben.

noe.ORF.at: Sie gelten als Extremfilmer, als jemand, der das Hässliche zeigt, das Ungute, die Außenseiter. Sehen Sie das auch so?

Seidl: Natürlich nicht. Ich trete nicht an und sage, ich mache hässliche Filme. Das liegt im Ermessen des Zuschauers. Sie sehen etwas, wie zum Beispiel Körper, die nicht mehr jung oder gestylt sind. Sie sehen Sexszenen mit vielleicht älteren Leuten. Die Beurteilung liegt nicht bei mir, ich zeige etwas Wahrhaftiges, aus der Realität, so wie wir Menschen sind. Viele sind offensichtlich nicht gewohnt, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Wir leben in einer geschönten Wirklichkeit.

noe.ORF.at: Wir sitzen hier in Wien in Ihrer Filmproduktionsfirma. Sie arbeiten ja mit der Filmemacherin Veronika Franz zusammen, Sie waren auch privat lange ein Paar. Wie ist das, wenn man privat getrennte Wege geht, aber beruflich verbunden bleibt?

Seidl: Es ist vielleicht nicht mehr ganz so leicht, aber es funktioniert, weil wir wissen, dass wir miteinander gut können. Wir sind unsere Kontrollinstanz. Man weiß ja oft gar nicht, ob das wirklich so gut ist, was man schreibt. Man braucht einen Partner, der einen hinterfragt.

noe.ORF.at: Sie sind in Horn in einer streng katholischen Arztfamilie aufgewachsen. Glaube und Religiosität sind oft Themen in Ihren Filmen. Verarbeiten Sie Ihre Kindheit?

Seidl: Nicht mehr. Aber ich bin in einer sehr konservativen, sehr religiösen Familie aufgewachsen und den Großteil meiner Kindheit habe ich in einem katholischen Internat verbracht. Dagegen habe ich sicher revoltiert, aber nicht gegen den Glauben, sondern gegen die Autorität der Kirche, der Schule oder des Elternhauses. Ich habe früh begriffen, dass hier etwas nicht stimmt. Es gab keine offene Auseinandersetzung mit Kindern oder Schülern, sondern es wird Position gehalten. Da habe ich mich dagegen gesträubt.

noe.ORF.at: Sie haben die Filmakademie in Wien besucht, sind aber rausgeflogen, weil einer Ihrer Filme einen Skandal ausgelöst hat. Aber Sie sind beim Filmemachen geblieben – trotz des Rausschmisses.

Seidl: Letztlich war es eine Befreiung. Die Akademie fand, dass der Film dem Ansehen der Akademie schadet und da hatte ich keinen Platz mehr. Bis zu meinem ersten Kinofilm hat es dann sieben Jahre gedauert, da war ich dann nicht mehr der Jüngste.

noe.ORF.at: Gab es einen Moment, in dem Sie gedacht haben, jetzt schmeiß ich alles hin?

Seidl: Nein, den gab es nie. Weil ich mir gedacht habe, ich kann etwas, was andere nicht können und ich kann etwas vermitteln.

noe.ORF.at: Wollen Sie mit Ihren Filmen aufklären?

Seidl: Nein, gar nicht! Das betone ich immer wieder. Meine Filme geben keine „Message“ wieder, haben keinen Auftrag, sondern der Zuschauer muss sich selbst ein Bild machen und ein Urteil bilden.

noe.ORF.at: Sie haben einen Zweitwohnsitz in Drosendorf und dort eine Naheverhältnis mit dem Filmclub. Wie kommt das?

Seidl: Ja, schon seit Jahrzehnten. Ich habe meinen zweiten Kinofilm in dieser Gegend gedreht und die Premiere haben wir dann in Drosendorf mit einem fulminanten Fest gefeiert. Die ganze Umgebung hat mitgefeiert, auch Leute, die sonst nie ins Kino gehen. Seitdem gibt es eine kontinuierliche Verbindung mit dem Filmclub. Alle meine Filme werden dort gezeigt, auch „Rimini“.

noe.ORF.at: Kommen wir noch einmal zurück zu Richie Bravo, dem Protagonisten in „Rimini“. Sie planen ja einen zweiten Film, in dem es um den Bruder von Richie Bravo geht.

Seidl: Ja, es ist schon alles gedreht. Der Film heißt „Sparta“. Die beiden haben denselben Vater. Der Film spielt in Rumänien. Eigentlich war ein großes Projekt geplant, aber beim Schnitt bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass man mit zwei Filmen den Protagonisten näherkommt und das war ausschlaggebend.