Vlaemsch_ by Sidi Larbi Cherkaoui
Filip Van Roe
Filip Van Roe
Kultur

Festspielhaus startet in eine neue Ära

Am Freitag startet das Festspielhaus St. Pölten in eine neue Ära: Mit der Österreich-Premiere von „Vlaemsch (chez moi)“ in der Choreografie von Sidi Larbi Cherkaoui beginnt Bettina Masuch, die neue Künstlerische Leiterin, ihre erste Saison.

„Kosmopolit, Brückenbauer, Chamäleon: Wie kaum ein anderer zeitgenössischer Choreograf vermag Sidi Larbi Cherkaoui einen pulsierenden Kosmos aus Kulturen und Kunstformen zu vereinen und von Mal zu Mal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Den im mehrsprachigen Belgien geborenen und aufgewachsenen Sohn einer flämischen Mutter und eines marokkanischen Vaters treibt seit jeher die Frage nach den eigenen Wurzeln um. Wie lässt sich Identität definieren? Was macht ein Individuum, ein Volk oder eine Nation aus?“, kann man auf der Website des Festspielhauses St. Pölten über die Österreich-Premiere am Freitag lesen.

Vlaemsch_ by Sidi Larbi Cherkaoui
Filip Van Roe

Zuletzt 2019 mit dem Opera Ballet Vlaanderen und „L’Oiseau de Feu/Exhibition“ zu Gast, kehrt der vom Magazin „tanz“ dreimal zum „Choreografen des Jahres“ gewählte 46-jährige Sidi Larbi Cherkaoui nun mit seiner Compagnie Eastman für die Saisoneröffnung ans Festspielhaus St. Pölten zurück.

„Flandern ist eine Kreuzung von Eindrücken“

In „Vlaemsch (chez moi)“, dem ersten Teil seines neuen Diptychons, setzt sich Cherkaoui, von dem Konzept, Regie und Choreografie stammen, mit dem kulturellen Erbe Flanderns auf persönlich-autobiografischer wie öffentlich-gesellschaftlicher Ebene auseinander: „Geografisch gesehen ist Flandern eine Kreuzung von Eindrücken. Als eine Art Zwischenfigur hat es mit allen möglichen Formen von Identität zu tun.“

Mit dem bildenden Künstler Hans Op de Beeck, dem Antwerpener Modedesigner Jan-Jan Van Essche sowie dem renommierten Lautenspieler Floris de Rycker und dessen Ensemble Ratas del viejo Mundo geht Cherkaoui der gemeinsamen Herkunft nach.

Vlaemsch by Sidi Larbi Cherkaoui
Filip Van Roe

Mit ihren jeweils eigenen künstlerischen Handschriften erforschen die vier zeitgenössischen „flämischen Meister“ die tief liegenden Schichten des flachen Landes, die sie von der Gegenwart bis ins 15. Jahrhundert führen, als Flandern für seine lebendige, innovative Kunstszene weltweit Ruhm erlangte. Ihnen gegenüber steht ein internationales Ensemble aus Tänzern und Schauspielern, aus Männern wie Frauen, die in die Mythen der flämischen Kultur eintauchen.

Was stimmt in den Erzählungen über die Vergangenheit?

In einem Interview im Programmheft antwortet Sidi Larbi Cherkaoui auf die Frage, was bedeutet das Wort „Vlaemsch“ für ihn bedeute: "‚Vlaemsch‘ beschwört für mich das Bild einer alten, verblassten Zeitung herauf. Als würde man auf eine ferne Vergangenheit blicken und zugleich auf etwas sehr Nahes.

Diese Zeitung mag gerade einmal hundert Jahre alt sein, doch in der kurzen Zeit ist viel passiert. Es erinnert mich vor allem an den Kontrast zwischen Jugendlichen auf Instagram oder Facebook heute und jener Zeit, als das Sprechen über Identität – über das Flämischsein – in Zeitungen und auf anderen Wegen der Propaganda stattfand.

Sidi Larbi Cherkaoui
Rahi Rezvani
"Wir vergessen viel von unserer Geschichte und stellen uns manchen Teilen von ihr nicht. Ich halte es für notwendig, hin und wieder in die Vergangenheit zurückzukehren, nach seinen Wurzeln zu suchen und sie dort, wo notwendig, zu entwirren“, so Sidi Larbi Cherkaoui

Wir haben einerseits eine gegenwärtige Form des Flämischseins, andererseits eine flämische Mythologie. Letzteres geht großteils auf unser Bildungssystem zurück. In der Schule erlebt man eine Art Indoktrinierung: Man wird mit einer bestimmten Ästhetik gefüttert, mit einer Art, über sich selbst und sein Umfeld nachzudenken.

Es findet ein Framing der eigenen Kultur statt, in das man so stark hineingezogen wird, dass es einer Selbstverherrlichung gleicht. Und so hinterfragt man nichts. Erst viel später erkennt man: Welchen Preis bezahle ich dafür? Wie viel von dem, was ich über unsere Vergangenheit für wahr hielt, ist wirklich passiert?"

Sidi Larbi Cherkaouis lange Beziehung zu St. Pölten

Sidi Larbi Cherkaoui, geboren in Antwerpen, wird von vielen zu den wichtigsten Stimmen des zeitgenössischen Tanzes gezählt. Mit mehr als 50 Stücken erlangte der Tänzer und Choreograf den Ruf eines experimentierfreudigen sowie nicht klassifizierbaren Ausnahmekünstlers. 2010 gründete er mit Eastman seine eigene Compagnie, die im Antwerpener Kunstzentrum De Singel beheimatet ist. Ab der Saison 2022/23 leitet er das Ballet Grand Theatre de Geneve.

Mit dem Festspielhaus St. Pölten verbindet Cherkaoui eine lange Geschichte: Neben seinem Wirken als Artist in Residence in der Saison 2010/11 waren zahlreiche seiner Arbeiten zu Gast, etwa „Sutra“, „m¡longa“, „Puz/zle“, „Babel(words)“ sowie zuletzt in der Saison 2018/19 „L’Oiseau de Feu/Exhibition“ mit dem Opera Ballet Vlaanderen.