Die „drei Schwestern“ aus dem gleichnamigen Theaterstück stehen mit Mänteln und Hauben im verschneiten Wald
Luiza Puiu
Luiza Puiu
Kultur

Krieg und Frieden bei „Drei Schwestern“

„Drei Schwestern“ am Landestheater Niederösterreich ist die erste deutschsprachige Inszenierung von Kriszta Szekely. Die Premiere am Mittwoch in St. Pölten ließ manchmal mehr an Tolstoi als an Tschechow denken: Krieg und Frieden.

Die in der Provinz versauernden drei Schwestern wollen nach Moskau, ins aufregende städtische Leben. Die bei ihnen stationierten Soldaten müssen in den Krieg, der „militärische Spezialoperation“ genannt wird. Das ist der Bogen, den Kriszta Szekely in ihrer „Drei Schwestern“-Inszenierung in St. Pölten schlägt.

Die mehrfach ausgezeichnete 39-jährige Ungarin, Hausregisseurin und Mitglied der künstlerischen Leitung am Katona Jozsef Theater in Budapest, hat erstmals ein Stück auf Deutsch inszeniert. Ihr war bewusst, „dass man irgendeine Art von Statement von mir erwartet“, hatte sie im Vorfeld im Interview mit APA-Redakteur Wolfgang Huber-Lang gesagt. Russische Soldaten auf der Bühne, der Ruf „Nach Moskau! Nach Moskau!“, aber auch das bei einigen Figuren vorhandene Bewusstsein, dass Stillstand in den Abgrund führt und man dringend aktiv werden müsste – all’ das sind Umstände, die dem Klassiker erstaunliche Aktualität verleihen. Szekely löst ihre Aufgabe in aller Ruhe und nimmt sich dafür drei Stunden (inklusive Pause) Zeit.

Die Zeit steht still

Bühnenbildnerin Eszter Kalman lässt einen Leuchtstoffröhrenwald vom Schnürboden hängen und löst alle direkten Bezüge zum 19. Jahrhundert auf. Ein großer Esstisch, Sessel, ein kleiner Kühlschrank, in dem der Wodka gekühlt und auf dem Teewasser gekocht wird, verweisen eher auf die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts, könnte aber auch die Gegenwart in der Provinz beschreiben, in der die Zeit stillsteht. Ein kleines Keyboard und ein Mikro sind Setzungen, die den Abend nicht weiter prägen werden.

Musik- und Toneffekte bleiben Beiwerk, auch wenn die Inszenierung mit Party-Gehopse zum 20. Geburtstag von Irina (Laura Laufenberg) beginnt und nach der Pause mit einem bewusst unerträglichen Gitarren-Auftritt des Lehrers Kulygin (Michael Scherff) wiedereröffnet wird, der Madonnas „Like a Virgin“ zur Folk-Ballade uminterpretiert und dies als Liebeslied seiner Frau Mascha (Julia Kreusch) widmet.

Regisseurin Kriszta Székely
Dániel Dömölky
Die aufstrebende ungarische Regisseurin Kriszta Szekely inszeniert „Drei Schwestern“ im Landestheater Niederösterreich in St. Pölten

Olga, Mascha und Irina sind das berühmteste Schwestern-Trio des Welttheaters. Auch in St. Pölten sind sie einander eng verbunden, aber ein Jahr nach dem Tod ihres nur noch als Porträtfoto auf dem Kühlschrank präsenten Vaters in einem Vakuum, das ihnen ziemlich zusetzt. Olga (Bettina Kerl) geht als Lehrerin in Arbeit unter, die verheiratete Mascha leidet still vor sich hin, Irina hüpft mit einem eingefrorenen Lächeln durchs Leben, ohne Ahnung, wohin sie ihre Energie hintun soll. Fürs Provinzleben fühlen sie und ihr Bruder Andrej (Florian Carove) sich eindeutig überqualifiziert.

Anspielungen auf Ukraine-Krieg und Klimakrise

Uniform trägt vorerst nur der tote General auf dem Foto. Das ist die größte Überraschung. Die Soldaten, die sich in dem offen geführten bürgerlichen Haus so wohlfühlen und auch als Projektionsfläche für alle Sehnsüchte dienen, kommen in Zivil. Tobias Artner ist als Tusenbach ein studentisch wirkender Schwärmer und Weltverbesserer, Tim Breyvogel als Werschinin ein energischer und nicht unsympathischer Maulheld, Lennart Preining ein etwas gruftiger Künstler-Typ. Bis zur Pause wirkt das alles etwas unentschlossen, ja sogar enttäuschend: Sachlichkeit und Nüchternheit statt Poesie und Melancholie. Sollen die drei Schwestern doch sehen, wo sie bleiben!

Nach der Pause wandelt sich das Bild und verändert Szekely ihren Zugriff. Der Brand im dritten Akt bringt plötzlich und unmittelbar die Gegenwart ins Spiel. Assoziationen zu den brennenden Städten in der Ukraine stellen sich unmittelbar ein, manche Bemerkungen zur gestiegenen Waldbrandgefahr lassen sich auch mit den heutigen Klimagefahren assoziieren. Plötzlich dröhnen die Sirenen, herrscht Ausnahmezustand, wird zusammengerückt und gepackt.

Die Soldaten, eben noch Retter in der Not, werden abgezogen. Sie werden „für eine militärische Spezialoperation, ziemlich weit weg“ gebraucht. Die Gesellschaft militarisiert sich, mit einem Mal werden Uniformen getragen, Umbruchs- und Abschiedsstimmung liegt in der Luft. Die Nerven liegen blank.

Schwestern, die einem das Herz zerreißen

Endlich kommen echte Emotionen ins Spiel. Endlich erinnert man sich, warum die „Drei Schwestern“ früher in der Lage waren, einem das Herz zu zerreißen. Die Zweier-Szenen zwischen Tusenbach und Irina und zwischen Werschinin und Mascha berühren, die Schwägerin Natascha (Marthe Lola Deutschmann), die zunehmend das Regiment im Haus führt, darf richtig fies sein, und Florentin Groll macht aus dem versoffenen Militärarzt Tschebutykin einen Visionär und Zyniker, der sich die Verkleidung eines harmlosen Waldschrats gibt, aber sehr genau mitbekommt, was um ihn herum vorgeht.

Mit dem zweiten Teil löst Szekely die Erwartung ein. Ob sie am Ende dann den Bogen überspannt, wenn sie die Figuren Friedensappelle formulieren lässt, während im Hintergrund Gefechtslärm zu hören ist – das ist vielleicht Geschmackssache. Der Premierenapplaus war jedenfalls lange und herzlich. Das Schicksal der „Drei Schwestern“ lässt uns auch nach über 120 Jahren nicht kalt.