Zeitzeuginnengespräch mit Erika Freeman
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Zeitzeugin Freeman hat „keine Angst gelernt“

Erika Freeman ist eine der bekanntesten NS-Zeitzeuginnen. Mit zwölf Jahren alleine aus Wien geflohen, erzählte sie im Zeitzeuginnenforum in St. Pölten von fehlender Angst, prominenten Weggefährten und ihrem Drang zur Bühne mit 95 Jahren.

Erika Freeman sprudelt wie eh und je. Auch mit 95 Jahren wird sie nicht müde, von einer Veranstaltung zur nächsten zu reisen und die Erinnerungen an mehr als 95 Lebensjahre zu teilen, wobei sie selbst der Meinung ist, dass sie „drei Mal dreißig plus fünf“ Jahre alt ist – und sie hat noch deutlich mehr vor: „Wenn wir Juden jemandem zum Geburtstag gratulieren, dann wünschen wir alles Gute bis 120. Das kommt daher, dass Moses 120 Jahre alt wurde. Aber eigentlich ist das sexistisch. Denn Sarah, Abrahams Frau, wurde 127 Jahre alt – und ich werde das auch!“

So ernst die Themen auch sein mögen, über die Erika Freeman spricht: Wo auch immer sie auftaucht, wird gelacht. Selbst dann, wenn sie erzählt, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg in New York zum Wiedersehen mit ihrem tot geglaubten Vater kam.

„Eines Tages geht mein Onkel spazieren – an Jom Kippur, ein sehr heiliger Tag, man muss fasten und den ganzen Tag im Tempel sein. Mein Onkel aber geht spazieren, fastet nicht und macht sich gute Laune. Da läuft ein Mann aus einem Hotel am Broadway und sagt: ‚Was tust du da?‘ Und mein Onkel fragt dasselbe: ‚Was tust du da? Du bist doch tot!‘ Und mein Vater sagt. ‚Nein, ich bin nicht tot, aber das Kind ist tot.‘ Worauf mein Onkel antwortet: ‚Das Kind ist hier.‘ Und so habe ich meinen Vater getroffen.“ Der Schluss, den Erika Freeman damals für sich selbst zog, und den sie in ihrem Leben später mehrfach bestätigt empfand: „Man muss an Wunder glauben. Wie kann man nicht an Wunder glauben?“

Zeitzeuginnengespräch mit Erika Freeman
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Freeman mag die Bühnenpräsenz: „In Amerika ist ein ‚Ham‘ ein Mensch, der die Bühne nicht verlassen will. Und ich bin ein Ham.“

Glaube, Humor und Mut als Antriebsfedern

Nicht nur der Glaube an Wunder, sondern der Glaube im Allgemeinen sei ihr sehr wichtig, erzählt Freeman. Das habe sie auch nie den Mut verlieren lassen, sie glaube an das Gute – trotz allem, was sie erlebt hat. „Nur verstanden habe ich nicht alles“, sagt sie, zum Beispiel den Tod ihrer Mutter. Sie hatte nachdem Erika nach New York geflüchtet war, weiter in Wien gelebt – als sogenanntes U-Boot. Bei einem der letzten Bombenangriffe auf Wien knapp vor Kriegsende kam sie am 12. März 1945 ums Leben. „Das versteh ich nicht“, so Freeman, mit Blick nach oben, „aber ich denke mir, er wollte sie schneller haben. Es wäre nett gewesen, meine Mutter noch länger zu haben, aber wenn sie im Himmel ist, kann es nicht schaden“.

Alleine in New York habe sie viel an ihre Mutter gedacht und wollte „tapfer sein“. Angst sei ihr fremd, so Freeman. „Meine Familie war immer schon mutig. Angst habe ich nie gelernt.“ Das beschreibt sie anhand einer Situation vor ihrer Flucht in die USA, als sie gemeinsam mit ihrer Mutter an der Hand durch Wien gegangen ist. „Plötzlich tauchte da ein Soldat auf und läuft vor uns über die Straße. Ein paar Sekunden später läuft ihm ein anderer nach. Meine Mutter war total ruhig und ich habe keine Reaktion an ihrer Hand gemerkt, ihr Griff wurde kein bisschen fester. Sie sagte einfach nur: ‚Siehst du das? Die Soldaten spielen miteinander.‘ Ich habe es geglaubt.“

Über politisches Engagement zur Psychoanalyse

Als junge Erwachsene wollte Erika Freeman „die Welt retten“, wie sie erzählt, „und ich dachte, mit ‚International Relations‘ wird das gehen. Unter dem britischen Mandat haben die Engländer gesagt, dass sie den Juden helfen werden, eine Heimat in Palästina zu kriegen. Das kann man leicht versprechen, wenn das Land dir nicht gehört“.

Doch es waren dann genau jene Erfahrungen, die sie zweifeln ließen, ob die diplomatischen Bemühungen fähig sein würden, Verbesserungen herbeizuführen. „Letztlich haben die Engländer ‚nein‘ gesagt, den überlebenden Juden eine neue Heimat zu verschaffen. Die Schiffe mit KZ-Überlebenden – auf einem war auch meine Tante – waren dann letztlich voll mit illegalen Migranten. Es war nicht gesetzlich, Juden nach Palästina zu bringen, obwohl die Engländer es versprochen haben. Und viele sind einfach zugrunde gegangen.“

Fotostrecke mit 4 Bildern

NS-VERTRIEBENE ERIKA FREEMAN IM Haus für Geschichte
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Im Juli 2022 bekam Erika Freeman die österreichische Staatsbürgerschaft zurück. Heute ist sie österreichisch-amerikanische Doppelstaatsbürgerin.
NS-VERTRIEBENE ERIKA FREEMAN AM „HITLER-BALKON“
ROLAND SCHLAGER / APA / picturedesk.com
Im selben Jahr betrat Freeman den normalerweise unzugänglichen „Hitler-Balkon" der Hofburg, von dem aus Hitler 1938 den „Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich verkündet hatte. Freeman sprach bei ihrem Besuch damals von „Rache an Hitler", dass sie noch da sei im Gegensatz zu ihm.
FEST DER FREUDE: Erika FREEMAN
TOBIAS STEINMAURER / APA / picturedesk.com
Erika Freeman 2022 beim „Fest der Freude" in Wien, wo sie eine Rede für die Menschlichkeit hielt, angesichts des Kriegs in der Ukraine aber auch einen Seitenhieb auf Russlands Staatschef Wladimir Putin setzte: „Wenn ein kleiner Mann halb nackt auf einem Pferd sitzt, dann pass auf!“
Zeitzeuginnengespräch mit Erika Freeman
ORF/Veronika Berger
Bei ihrem Besuch im Haus der Geschichte in St. Pölten Ende März 2023 appellierte die NS-Vertriebene, einander zu verzeihen und als Menschheit besser werden zu wollen – einzeln wie im Kollektiv

In ihren Bemühungen, „die Welt zu retten“, schnupperte sie auch bei der Arbeit der UNO. „Weil die Engländer damals gesagt haben, dass Palästina sie nichts mehr angeht und die Vereinten Nationen sich darum kümmern sollten. Da wurde ich eingeladen, zuzuschauen, wie ein neues Land geboren wird“, erinnert sich Freeman, die damals mit dabei war in den Hinterzimmern der diplomatischen Nachkriegszeit.

Weichenstellend für ihr weiteres Leben war dann ein speziell tyrannischer Botschafter, den Freeman vor allem brüllend erlebt hat. „Ich dachte mir: Der Mann ist meschugge, er ist ganz verrückt. Er kann die Welt zerstören, weil er an einem Platz ist, an dem das möglich ist. So bekam ich den Gedanken: Wenn ich ihn retten kann, kann ich die Welt retten, weil er sie dann nicht mehr zerstören will. So bin ich von Politikwissenschaften zur Psychoanalyse gekommen.“

Kardinal König sprach von „gefährlicher Frau“

Zu ihren liebsten Patientinnen und Patienten haben Politikerinnen und Politiker aber nicht gehört, wie Freeman eingesteht. Wenngleich sie viele namhafte Menschen aus der Politik auch beraten hat und teils bis heute berät. „Ich arbeite lieber mit Künstlern, mit Schauspielern und Schriftstellern. Lieber als mit Politikern."

Freeman hütet sich zwar, Inhalte aus Therapien und Beratungen preiszugeben. Eine Anekdote von Kardinal König gab sie aber preis. Auch er zählte zu jenen Menschen, die Wert auf Freemans Einschätzungen legten. Ihr zufolge trafen der Kardinal und sie einander wöchentlich – auch unter Einbindung von Botschaftern. „Und eines Tages sagt er zu einem Botschafter: ‚Von dieser Frau kriege ich mehr in einer Stunde als von meinem offiziellen Berater in einem ganzen Jahr.‘ Daraufhin wurde ich wirklich übermütig und erwiderte: ‚Eminenz, wenn wir Juden euch versprechen, nie mehr wieder einen Jesu Christi auf die Welt zu bringen, könnt ihr uns endlich für den ersten verzeihen?‘ Daraufhin ist der Botschafter ein bisschen grün geworden im Gesicht, wie man sich vorstellen kann. Aber der Kardinal hatte dieses Lächeln in den Augen und sagte: ‚Eine gefährliche Frau.‘“

Zeitzeuginnengespräch mit Erika Freeman
ORF/Veronika Berger
So ernst kann ein Abend kaum sein, dass Erika nicht auch lacht bzw. andere zum Lachen bringt – durchaus auch mit Selbstironie

95-Jährige will weiter „nützlich“ sein

noe.ORF.at: Sie fliegen mit 95 noch in der Weltgeschichte herum – oder wie Sie es formuliert haben: mit drei Mal 30 plus fünf. Woher nehmen Sie den psychischen und physischen Antrieb dazu, so viele Veranstaltungen zu besuchen?

Erika Freeman: Solange ich nicht tot bin, warum nicht? Es ist ganz einfach da. Ich benütze es, aber ich weiß nicht, woher es kommt. Es liegt mir etwas daran. Ich bin noch da, ich kann reden – und stell dir vor – man hört mir noch immer zu! Also muss ich doch weiterreden und da sein, solange mir jemand zuhört. Es ist schön, noch nützlich zu sein.

noe.ORF.at: Empfinden Sie Glück dabei, sich nützlich zu fühlen?

Freeman: Dass ich noch nützlich sein kann, macht mich ungeheuer glücklich. Es wäre sehr traurig, wenn ich in der Ecke sitzen würde und niemand braucht, was ich weiß und was ich kann. Noch helfen zu können und noch etwas verbessern zu können – es geht doch nicht besser! Der Trick ist, sich selbst zu verbessern. Allerdings geht das nicht so leicht.

noe.ORF.at: Besser zu werden und anderen zu helfen – das ist ja auch Ihr Job als Therapeutin und in dieser Rolle haben Sie ja auch viele Prominente behandelt.

Freeman: Wir reden niemals über meine Patienten! Erst recht nicht, wenn sie bekannt sind. Das ist privat. Nur weil sie berühmt sind, soll ich etwas über sie erzählen? Nein!

noe.ORF.at: Es ist klar, dass Sie keine persönlichen Geschichten Ihrer Patienten verraten. Aber verliert sich das Besondere von Berühmtheit, wenn man viele Promis näher kennenlernt und merkt, dass im Grunde jeder Menschen mit denselben Lebensthemen kämpft?

Freeman: Wer sagt, dass es bedeutend ist, wenn jemand berühmt ist? Mir ist das egal. Es gibt so viele Menschen, die herrliche Sachen machen, die niemand kennt und von denen niemand weiß. Ruhm braucht man nicht. Vielleicht als Schauspieler, um gebucht zu werden. Aber Schauspieler sind arme Kerle. Sie sind sehr viel sensibler als andere Menschen, weil sie fast jeden verstehen müssen, nur sich selbst nicht.

noe.ORF.at: Sie glauben an Wunder und Sie sprechen sehr oft davon, in Ihrem Leben viel Massel gehabt zu haben. Wann besonders?

Freeman: Absolut, ohne Massel geht es nicht. Ich hatte Massel, geboren zu sein, dass ich eine herrliche Mutti gehabt habe, dass das Leben nett ist, dass ich noch reden und nützlich sein kann. Glücklich zu sein, macht gescheit und gesund. Für diese Erkenntnis hat Eric Kandel den Nobelpreis bekommen. (Österreichisch-US-amerikanischer Psychiater, Physiologe, Neurowissenschaftler, Verhaltensbiologe und Biochemiker, der im Jahr 2000 gemeinsam mit Arvid Carlsson und Paul Greengard den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin verliehen bekam für deren Entdeckungen von Signalübertragungen im Nervensystem; Anm.)

Antisemitismus wird in Österreich „leicht verziehen“

noe.ORF.at: Ich finde kaum ein Interview oder eine Veranstaltung mit Ihnen, wo man Sie nicht auch lachen sieht.

Freeman: Wirklich (lacht wieder)?

noe.ORF.at: Ist Lachen Ihrer Meinung nach essentiell, um resilient durchs Leben gehen zu können, speziell in schwierigen Zeiten – auch als Gesellschaft?

Freeman: Ja! Was hast du davon, nicht zu lachen? Nichts! Wenn wir nicht lachen, wird auch jeder andere grantig. Alles, was wir tun, ist ansteckend. Und wenn du jemanden unglücklich machen willst, tust du mir leid. Aber du wirst es schaffen, auch wenn du jemanden versklaven willst, und leider tun das so viele Menschen – manche in der Politik und andere im Faschismus. Das ist schlecht! Fürchterlich! Dahinter steht, andere zu vernichten, weil man so klein ist und sich dadurch groß macht. Das ist hässlich und eine große Sünde.

noe.ORF.at: Wir sind hier in St. Pölten, wo es bis zum Zweiten Weltkrieg eine große jüdische Gemeinde gab – heute nicht mehr. Und wir haben eine neue Landesregierung mit einem Landeshauptfrau-Stellvertreter, in dessen Umfeld Liederbücher mit antisemitischen Texten gefunden wurden. Wie geht es Ihnen damit?

Freeman: Antisemitismus ist sehr leicht zu verzeihen für Österreicher. Andere Sachen sind schwerer zu verzeihen. Leider ist das noch immer ein bisschen unter dem Radar und geht noch weiter. Es ist eine Krankheit. Aber es wird sich schon heilen.

noe.ORF.at: Zum Schluss würde ich Sie gerne um einen Ratschlag bitten mit ihrer langen Lebenserfahrung: Gibt es eine Botschaft, die Sie allen jungen Menschen heute mit auf den Weg geben wollen?

Freeman: Glaube an deinen Traum! Aber glaube niemandem, dass dein Traum unmöglich sein soll. Vielleicht war er unmöglich. Aber du wirst es schaffen, wenn du es schaffen willst. Und habe keine Angst! Von Angst hat man nichts, von Angst wird man nur blöd. Hab ein bisserl’ Mut und trau dich!