Der tödliche Einsatz in Annaberg in der Nacht auf den 17. September 2013 zählt zu den dunkelsten Stunden der Geschichte der niederösterreichischen Polizei und auch des Roten Kreuzes. Jahrelang wurde in der Gegend bereits nach einer Wildererbande gefahndet, da Jagdhütten geplündert und angezündet, Trophäen gestohlen und Hirsche illegal abgeschossen worden waren. Dass hinter all den Verbrechen nur ein Mann steht und dieser mit einer extremen Gewaltbereitschaft reagiert, hatte Polizei und Rettungskräfte völlig überrascht.
„Die Situation war für uns im Roten Kreuz Niederösterreich eine Extremsituation“, erinnerte sich Landesrettungskommandant Wolfgang Frühwirt im Gespräch mit noe.ORF.at. Als „sehr bedrückend“, beschrieb Landespolizei-Pressesprecher Johann Baumschlager die Stunden, in der ein riesiger Medienrummel über ihn hereinbrach. Bei dem Einsatz hatte er nicht nur Kollegen, sondern auch Freunde und Bekannte verloren.
Gezielte Schüsse des Täters bei Verfolgungsjagd
In der Nacht des 16. September 2013 durchbrach der verdächtige Wilderer H. eine Straßensperre, die die Sonderkommission „Wilderer“ in der Gegend von Annaberg errichtet hatte. Er war mit einem dunklen Geländewagen mit gestohlenen Kennzeichen unterwegs, kam von der Straße ab, eröffnete das Feuer auf die Polizistinnen und Polizisten und traf einen 38-jährigen Cobra-Beamten. Die Rettung fuhr zum Tatort, um den schwer verletzten Polizisten ins Spital zu bringen. Auf dessen Zufahrt nahm H. den Rettungswagen ins Visier und erschoss den Rettungsfahrer mit einem gezielten Schuss.
Eine bis zu diesem Zeitpunkt unvorstellbare Situation, so Frühwirt: „Mit so etwas hat zu diesem Zeitpunkt niemand gerechnet. Dass man als Mitarbeiter einer Hilfsorganisation wie dem Roten Kreuz im Dienst gezielt erschossen wird.“ Das Gebiet um Annaberg wurde großräumig abgesperrt. Baumschlager, damals wie heute Pressesprecher der Landespolizeidirektion, sprach von großer Anspannung bei der Polizei: „Lange Zeit wussten wir nicht, wo sich der Täter nun aufhält.“ Die Nacht sei sehr stürmisch gewesen, es habe geregnet. Für die Einsatzkräfte sei es schwierig gewesen, den Überblick zu erlangen.
Der Wilderer streifte zu Fuß durch den Wald, traf an einer Kreuzung zwei weitere Polizisten. Er begann erneut zu schießen, tötete beide Beamten, zog die Leiche des Fahrers aus dem Auto und floh mit dem Streifenwagen nach Großpriel im Bezirk Melk, um sich dort in seinem weitverzweigten Haus zu verschanzen.
Von dort aus schoss er weiter auf die Polizisten – etwa 100 Beamte umstellten das Haus großräumig. Schließlich rückten Panzer an, Hubschrauber kreisten um das Anwesen. Um 17.30 Uhr drang ein letzter Schuss aus dem Haus. Später wurde die Leiche von H. im Keller gefunden – er hatte zuvor Feuer gelegt und sich dann erschossen.
Fall hinterlässt bis heute Spuren
In akribischen Ermittlungen wiesen die Kriminalisten H. 108 Straftaten bis ins Jahr 1994 zurück nach. Der Schaden betrug zehn Millionen Euro, das Motiv ist bis heute ungeklärt.
Der Fall aber hinterließ Spuren bei den Betroffenen. Die Einsatzkräfte von Rettung und Polizei sowie die Angehörigen erhielten noch in der Nacht psychologische Hilfe. Die beiden Sanitäterinnen waren später sogar wieder in den Rettungsdienst zurückgekehrt, so Frühwirt. Auch die Polizistinnen und Polizisten wurden von Psychologen betreut, darunter auch Pressesprecher Baumschlager. Die vielen Interviewanfragen – es waren bis zu 1.500 in den ersten Wochen – „haben mich an meine Grenze der Belastbarkeit geführt“.
Auch in Annaberg suchten die Bewohnerinnen und Bewohner das Gespräch, erinnert sich die damalige Bürgermeisterin Petra Zeh (ÖVP). Zunächst habe so etwas wie eine Schockstarre geherrscht. „Es war so, dass für die Bevölkerung dieses Grundvertrauen, das man im Zuhause erlebt, plötzlich weg war“, so Zeh. Viele Anrufe hätten sie in den Tagen, Wochen und Monaten danach erreicht, es seien viele Gespräche auf der Straße geführt worden. Die Angehörigen hätten zusätzlich Hilfe erhalten, außerdem habe man versucht, sie vor Medienanfragen so gut es geht zu schützen. „Wir haben alle sehr offen miteinander gesprochen, und so haben wir das dann auch verarbeitet“, sagte Zeh.
Konsequenzen bei Einsatzplanung und Ausrüstung
Der Einsatz in Annaberg wurde in weiterer Folge vom Innenministerium evaluiert. In sämtlichen Grundausbildungen ist der eigene Schutz der Einsatzkräfte noch mehr in den Fokus gerückt. Das Rote Kreuz hat neue Einsatzpläne entwickelt. Dabei sei es zunächst wichtig, bei jedem Einsatz die Gefahrenlage zu überprüfen – vom herabhängenden Stromkabel bis zur gefährlichen Verkehrssituation.
Mit dem Innenministerium wurden zudem Konzepte ausgearbeitet, wie künftig in derartigen Bedrohungssituationen reagiert werden soll, so Frühwirt: „Wir fahren nie mehr direkt an einen Notfallort in so einem Szenario zu, sondern wir bleiben weit weg in einem sicheren Bereich, einer grünen Zone, und warten, bis wir von der Polizei die Freigabe bekommen oder die Polizei eine Person, die Hilfe braucht, zu uns bringt.“ Zudem kann das Rote Kreuz jetzt eine Art stillen Alarm auslösen, wie es etwa auch in Banken der Fall ist.
Umfassende Konsequenzen zog das Innenministerium auch in der Polizeiarbeit. Die Einsätze seien taktisch optimiert worden, erklärte Baumschlager. Die Ausrüstung wurde verbessert, auch die Bewaffnung der Beamtinnen und Beamten. Wesentlich sei auch die Kommunikation zwischen den Streifen am Einsatzort sowie mit der Zentrale. Da helfe das elektronische Einsatz- und Leitkommunikationssystem ELKOS sehr, denn damit könne die Landesleitzentrale jederzeit sehen, wo sich eine Streife befindet, um so schneller zusätzliche Polizistinnen und Polizisten an einen Einsatzort zur Verstärkung zu schicken.
„Annaberg ist allgegenwärtig“
Der tödliche Einsatz in Annaberg hat also zu vielen Verbesserungen geführt. Schon allein, weil er in den Ausbildungstrainings immer wieder thematisiert werde, sei der Wildererfall in der Polizei allgegenwärtig. Aber nicht nur deshalb, so Baumschlager. „Die Spuren dieses Einsatzes sind nach wie vor präsent und deutlich spürbar in der Kollegenschaft“, meinte er, „es kommt uns auch so vor, als wäre das erst vor Kurzem passiert.“
Auch Zeh zeigte sich überzeugt, dass die Wunden nicht zu heilen seien: „Die Narben bleiben uns jedenfalls. Das gehört zur Geschichte Annabergs. Aber es ist schon auch so, dass irgendwann einmal alles gesagt ist.“ Ein Gedenkstein an der Kreuzung der B20/B28 erinnert heute an die vier Opfer des Verbrechens. Jedes Jahr im September findet dort eine Gedenkfeier statt – mehr dazu in Zehn Jahre Annaberg: Stilles Gedenken (noe.ORF.at; 14.9.2023).