100 Jahre NÖ Marchegg Geiselnahme Terror Cobra Gründung
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Chronik

Terrorüberfall sorgte für weltweite Empörung

Am Bahnhof in Marchegg (Bezirk Gänserndorf) hat vor 50 Jahren der palästinensische Terror in Österreich begonnen. Ein Terrorkommando nahm damals fünf Geiseln. Zugeständnisse an die Täter sorgten für Empörung. noe.ORF.at sprach mit einem Zeitzeugen über den Einsatz.

Routinemäßig wollen zwei Zollbeamte am Grenzbahnhof in Marchegg (Bezirk Gänserndorf) am 28. September 1973 die Reisepässe der jüdischen Zugpassagiere kontrollieren. Nur Augenblicke zuvor war ein Zug aus Bratislava in der damaligen Tschechoslowakei angekommen. Doch plötzlich halten ihnen zwei Araber eine Pistole unter die Nase, drängen sie in den Schlafwagen und nehmen ihnen die Pistolen ab.

Österreich war damals Transitland für Jüdinnen und Juden, die aus der Sowjetunion nach Israel ausreisen wollten. Die Jewish Agency hatte das Schloss Schönau an der Triesting (Bezirk Baden) gemietet, in dem die Emigranten, die per Bahn nach Österreich kamen, bis zum Abflug untergebracht wurden. „Bestimmte Organisationen im arabischen Raum haben das aber nicht gern gesehen“, erinnert sich Polizeioffizier Kurt Werle im Gespräch mit noe.ORF.at genau 50 Jahre später.

Terroristen nutzten Überwachungslücke aus

Die Emigrantinnen und Emigranten wurden deshalb auch von der damals kleinen Sondereinheit, dem Gendarmeriekommando Bad Vöslau, aus dem sich später das Einsatzkommando Cobra gründen sollte, bewacht – allerdings nicht schon ab der Staatsgrenze, sondern erst ab dem Wiener Ostbahnhof. Das dürften die Terroristen gewusst haben und nutzten diese Gelegenheit zu ihren Gunsten.

Zeitzeuge erinnert sich an Geiselnahme vor 50 Jahren

Am Bahnhof in Marchegg sind vor 50 Jahren Geiseln genommen worden. Es war der Beginn des palästinensischen Terrors in Österreich. Unter den sechs Geiseln waren geflüchtete Juden aus der damaligen Sowjetunion. Nach langen Verhandlungen am Flughafen Schwechat endete die Geiselnahme unblutig.

Während des Überfalls in Marchegg (Bezirk Gänserndorf) konnte einer der Zollbeamten bei einem der hinteren Ausgang aus dem Zug entkommen und Hilfe rufen. Sein Kollege sowie fünf jüdische Emigranten aus der Sowjetunion wurden als Geiseln genommen. Am Bahnhof kam es auch zu einem Schusswechsel, ehe sich die syrischen Terroristen mit den Geiseln im Bahnhofsgebäude verschanzten.

Terroristen stellen Forderungen

Die beiden Entführer verlangten schließlich einen Fluchtwagen, mit dem sie mit den vier verbliebenen Geiseln zum Flughafen Schwechat (Bezirk Bruck an der Leitha) gebracht werden wollten, außerdem forderten sie ein bereitstehendes Fluchtflugzeug, ansonsten würden sie sich mit den Geiseln in die Luft sprengen, so die Warnung damals. Die Polizei ließ die Täter zunächst gewähren, erzählt Werle, „weil wir in Marchegg keine Lösung herbeiführen konnten“.

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Mit diesem Zug kamen die arabischen Terroristen nach Marchegg
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Die Araber verschanzten sich zunächst mit mehreren Geiseln im Gebäude des Grenzbahnhofs
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Schließlich fuhren die Täter mit vier Geiseln zum Flughafen
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Die Polizei verfolgte das Fahrzeug auf Schritt und Tritt
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Einer der beiden Terroristen
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Die Verhandlungen mit den Geiselnehmern zogen sich am Flughafen über 16 Stunden

Am Flughafen begannen die zähen Verhandlungen mit den Geiselnehmern, die freies Geleit forderten. Von der Bundesregierung verlangten sie außerdem, das Transitlager in Schönau an der Triesting zu schließen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren bereits ca. 70.000 russische Jüdinnen und Juden über Österreich nach Israel gereist. Die Situation am Flughafen war laut Wehrle „sehr kritisch“, denn es wurde befürchtet, dass die Terroristen eine der Maschinen kapern könnten.

„Mulmiges Gefühl im Bauch“

Stattdessen versuchte der Offizier mit den Terroristen Kontakt aufzunehmen und ging zu deren Auto, „mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, weil einer der Araber eine Kalaschnikow auf mich gerichtet hatte und in seinem Mund zwischen die Zähnen den Splint einer Granate gezwickt hatte.“ Doch irgendjemand musste eben Kontakt aufnehmen, erzählt der heute 87-jährige Wehrle.

Bis in die späten Nachtstunden dauerten die Verhandlungen. Der damalige Bundeskanzler Bruno Kreisky (SPÖ) rief unterdessen einen Krisengipfel ein. Schließlich ging Kreisky auf die Forderungen ein und sicherte die Schließung des Transitlagers im Schloss Schönau an der Triesting zu, woraufhin die beiden Terroristen ohne Geiseln per Flugzeug Wien verließen. In den Morgenstunden des 29. September war die Geiselnahme unblutig beendet.

Internationale Empörung

Die Zugeständnisse Kreiskys führten zunächst zu veritablen politischen Verstimmungen, Israel reagierte empört, in den USA und anderen Ländern wurde die Entscheidung mit Befremden aufgenommen. Kurt Werle verteidigt jedoch die Entscheidung Kreiskys: Schließlich ging es in erster Linie um den Schutz der Geiseln. „Der Mann hätte nur seine Handgranaten im Auto fallen lassen müssen, dann wäre es um die Emigranten geschehen gewesen.“

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Die jüdischen Emigranten waren in den 1970er-Jahren im Schloss Schönau an der Triesting untergebracht, später kam hier die Spezialeinheit unter

Des weiteren hatte Kreisky nur die Schließung Schönaus zugesichert, "aber kein Ende der Emigration über Österreich“, ergänzt Wehrle. Ungeachtet von der Weltöffentlichkeit wurde dafür am 13. November die Rot-Kreuz-Station Wöllersdorf (Bezirk Wiener Neustadt) eröffnet. Ab sofort wurden die jüdischen Auswanderer zumeist in kleinen Gruppen via Österreich nach Israel gebracht.

Bis zum Ende des Kalten Krieges 1991 war Österreich für 250.000 osteuropäische Jüdinnen und Juden Durchgangsstation auf ihrem Weg nach Israel. Der Bahnhof von Marchegg wurde mittelweile modernisiert. Das Hauptgebäude, in dem sich vor 50 Jahren der Terroranschlag ereignet hat, ist noch erhalten.