Jahre Flucht mit dem Ballon aus der Tschechoslowakei
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Chronik

Mit dem Ballon über den Eisernen Vorhang

Vor 40 Jahren hat einer der spektakulärsten Fluchtversuche aus der Tschechoslowakei nach Österreich einen glücklichen Ausgang genommen. Eine Familie konnte mit ihrem aus Regenmänteln gebastelten Heißluftballon bei Falkenstein (Bezirk Mistelbach) landen.

Es sei damals eine ruhige Nacht gewesen, erinnert sich der 74-jährige Matthias Pesau. Er habe im Haus seiner Eltern Renovierungsarbeiten durchgeführt, als er gegen Mitternacht ein Zischen in der Luft hörte. Der damals 34-Jährige lief ins Freie und sah über dem Haus einen Heißluftballon.

Sofort erkannte er wegen einer Hochspannungsleitung in der Nähe die Gefahr. „Ich bin die Straße entlanggelaufen und habe durch lautes Schreien auf die Gefahr aufmerksam gemacht. Das dürfte verstanden worden sein, denn der Heißluftballon wurde wieder beheizt und kam so glücklich über diese Hochspannungsleitung.“

Matthias Pesau
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Zeitzeuge Matthias Pesau

Die Fahrt in die Freiheit dauerte eine Stunde

Eine knappe Stunde dauerte die Fahrt mit dem Heißluftballon, die in Znaim begonnen hatte und in Falkenstein endete, keine zehn Kilometer vom Eisernen Vorhang entfernt. Der 38-jährige Robert Hutyra, seine Ehefrau, seine 14-jährige Tochter und sein elfjähriger Sohn waren in Sicherheit.

Matthias Pesau erinnert sich an jenen Moment, als er mit den vier Insassen sprechen konnte. „Die erste Frage war natürlich: ‚Wo sind wir gelandet?‘ Als sie hörten, dass sie auf österreichischem Boden stehen, war die Freude natürlich sehr groß. Unter Tränen umarmten sie sich und waren überglücklich, dass die Flucht mit dem Ballon gelungen ist.“

Jahre Flucht mit dem Ballon aus der Tschechoslowakei
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Der Ballon wurde aus Regenmänteln gefertigt

Zwei Jahre dauerte unter größter Geheimhaltung die Vorbereitung auf die Flucht. Der Ballon wurde aus Regenmänteln gefertigt, der Korb mit Blech geschützt. Auf der Flucht nahmen sie nur zwei Taschen mit, das Rennrad war an der Außenseite des Korbes befestigt. Tochter und Sohn waren erst zwei Tage vor der Flucht informiert worden.

„Nach dem Aufstieg überkam mich ein Gefühl der Befreiung, und die ganze Anspannung der letzten Monate der Vorbereitung fiel mit einem Mal von mir ab“, sagte Robert Hutyra über seine damaligen Gefühle. Tschechoslowakische Grenzsoldaten schossen bei der Flucht mit Leuchtraketen auf den Ballon, doch sie trafen nicht.

„Die Wolken waren wie ein Ozean. Wunderbar“

Robert Hutyra war in den 1960er-Jahren ein bekannter Radrennfahrer, fünffacher slowakischer und zweifacher tschechoslowakischer Meister. Er fuhr auch Radrennen in Österreich, 1966 gewann er die Burgenlandrundfahrt. Doch trotz dieser Erfolge war die Freiheit für ihn und seine Familie wichtiger.

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Hutyra schilderte in dem von Radio Free Europa/Radio Liberty produzierten Dokumentarfilm „Flight to freedom“ seine Eindrücke

Und so riskierten er und seine Familie 1983 die Flucht mit dem Heißluftballon. „Wir waren drei Kilometer hoch, durchbrachen die Wolken, die wunderbar aussahen, wie ein schöner Ozean. Jeder schaute, niemand sprach. Es war schön, sehr schön“, schilderte Robert Hutyra im Jahre 2019 in dem von Radio Free Europa/Radio Liberty produzierten Dokumentarfilm „Flight to freedom“ seine Eindrücke.

Zuerst in die USA, später wieder zurück nach Tschechien

Die Flucht mit dem Ballon über die Staatsgrenze sei relativ problemlos verlaufen, erzählte Hutyra damals. Und sie sei die beste Möglichkeit gewesen, in die Freiheit zu gelangen. „Die Tschechoslowakei, das waren dunkle Dörfer. Auf der österreichischen Seite sah ich eine Tankstelle, überall waren Lichter, auch auf den Straßen. Wo ich genau war, wusste ich nicht.“ Er und seine Familie waren in Freiheit, sie hatten es geschafft.

Die Familie wanderte in die USA aus. In den 2010er-Jahren kehrten Robert Hutyra und seine Ehefrau nach Tschechien zurück. Vor fünf Jahren fand Matthias Pesau einen Brief der damaligen Ballonflüchtlinge vor seiner Haustüre in Falkenstein, auch im Frühjahr 2023, doch es kam zu keinem Treffen. 2021 starb Robert Hutyra im Alter von 76 Jahren.

Fluchtversuche waren lebensgefährlich

Fluchtversuche am Eisernen Vorhang waren keine Seltenheit. Die 453 Kilometer lange Grenze zwischen Österreich und der Tschechoslowakei war für viele Menschen aus dem „Ostblock“ die letzte Barriere zum Westen. „Die Zahl der Geflüchteten dürfte von den 1950ern bis Ende der 1980er-Jahre bei einigen Tausend liegen“, sagt Sabine Nachbaur, Historikerin am Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgenforschung, „genaue Zahlen liegen bisher wegen der lückenhaften Aktenlage nicht vor“.

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Fluchtversuche am Eisernen Vorhang waren keine Seltenheit

Die Flucht aus der Tschechoslowakei nach Österreich war jedenfalls ein lebensgefährliches Unterfangen. Zahlreiche Flüchtende wurden von Grenzsoldaten getötet. „Nach aktuellem Forschungsstand sind mehr als 140 Menschen bei Fluchtversuchen ums Leben gekommen, die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen“, meint Sabine Nachbaur. 1986 etwa wurde ein 18-jähriger DDR-Bürger kurz vor dem Grenzübergang Berg (Bezirk Bruck an der Leitha) von tschechoslowakischen Soldaten gestellt. Sie hetzten Wachhunde auf den Mann, die diesen zu Tode bissen.

„Trotz des hohen Risikos fliehen zahlreiche Menschen vor der kommunistischen Repression, aber auch aufgrund der aussichtslosen allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Situation, und suchen die Freiheit im Westen“, so die Historikerin Sabine Nachbaur. Ein Großteil der Geflüchteten beantragte Asyl, die meisten wanderten später von Österreich in andere Länder aus.