Institut für Geschichte des ländlichen Raumes Niederösterreich privat Amateurfilmaufnahmen
Institut für Geschichte des ländlichen Raumes/“Niederösterreich privat“
Institut für Geschichte des ländlichen Raumes/“Niederösterreich privat“
Wissenschaft

Wenn alte Filme Alltagsgeschichte erzählen

Das vor zehn Jahren gestartete Projekt „Niederösterreich privat“ soll Filmaufnahmen als Zeitdokumente sichern. Die Auswertung dieser privaten Filmaufnahmen ist eines der wichtigsten Projekte des Instituts für Geschichte des ländlichen Raumes.

Die Sammelaktion „Niederösterreich privat“ wurde vom Land Niederösterreich und dem Filmarchiv Austria vor zehn Jahren durchgeführt. Knapp 3.000 Menschen stellten mehr als 70.000 Normal-8- und Super-8-Filme zur Verfügung und erhielten im Gegenzug eine DVD ihrer Privatfilme.

Mit der genauen Auswertung dieser Filmrollen wurde im Vorjahr begonnen, 2027 soll dann eine der weltweit größten regionalen Amateurfilmsammlungen komplett erfasst sein. Private Filmaufnahmen aus den 1920er- bis zu den 1990er-Jahren zeigen Außergewöhnliches wie Alltägliches.

Institut für Geschichte des ländlichen Raumes Niederösterreich privat Amateurfilmaufnahmen
Institut für Geschichte des ländlichen Raumes/“Niederösterreich privat“
„Die Filme zeigen dörfliche und regionale Erfahrungswelten, sie regen zum Nachdenken und Forschen an“, so das Institut für Geschichte des ländlichen Raumes

Die Filme sind für Brigitte Semanek, Leiterin des Instituts für Geschichte des ländlichen Raumes, eine „äußerst wertvolle Quelle“ für verschiedene zeithistorische Themen, etwa "von ökologischen zu kulturhistorischen Fragen, vom Wandel der Freizeit- und Konsumkultur auf dem Land bis hin zu Politik und politischer Beteiligung. Auch private Ereignisse und Feste im Familienkreis oder im Dorf wurden gefilmt und bei uns abgegeben.“

In den Filmen sind vergangene Lebenswelten von Menschen in Niederösterreich dokumentiert, bei der Arbeit ebenso wie beim Feiern, in der Freizeit ebenso wie beim Urlauben. Teile der Amateurfilme, die neun Jahrzehnte niederösterreichische Geschichte zeigen, sollen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und in Ausstellungen gezeigt werden.

Dörfliche Erfahrungswelten regen zum Forschen an

„Die Filme zeigen dörfliche und regionale Erfahrungswelten, sie regen zum Nachdenken und Forschen an“, kann man auf der Website des Instituts lesen. Neue Forschungsprojekte zur Alltagsgeschichte im ländlichen Raum werden durch „Niederösterreich privat“ in den nächsten Jahren entstehen, erläutert Brigitte Semanek.

Die Forscher interessiert etwa, wie sich das Automobilzeitalter in den Filmen abbildet, denn das Auto sei in dieser Zeit fast so etwas wie ein Familienmitglied geworden. "Es gibt Aufnahmen von Fahrten in den Urlaub, aber auch Szenen aus den Dörfern, wie Kinder mit den Fahrrädern oder Erwachsene mit den Rollern unterwegs sind. Diese Faszination für die Geschwindigkeit ist ein sehr spannendes Forschungsprojekt in Zukunft“, sagt Semanek.

Institut für Geschichte des ländlichen Raumes Niederösterreich privat Amateurfilmaufnahmen
Institut für Geschichte des ländlichen Raumes/“Niederösterreich privat“
Die mehr als 70.000 Filme von „Niederösterreich privat“ geben Einblicke in das Alltagsleben im Zeitraum von sieben Jahrzehnten

Doch nicht nur die neue Mobilitäts-, Raum- und Landschaftserfahrung werden im Mittelpunkt von Projekten stehen, sondern zum Beispiel auch die Mensch-Tier-Beziehungen, denn der Alltag war vielerorts vom Zusammenleben mit Tieren geprägt: „Sie sind daher oft in den Filmen zu sehen: in Aufnahmen von Stall und Weide, vom Jagen und Fischen oder vom Zoobesuch. Dazu kommen unzählige Haustiere: Katzen, Hunde, Meerschweinchen, Wellensittiche. Die Szenen sind so vielfältig wie die Rolle der Tiere“, heißt es in der Festschrift des Institutes, die anlässlich der 20-Jahr-Feier vorgelegt wurde.

Ländlichen Raum geschichtswissenschaftlich vermessen

Das Ziel des Instituts ist seit 20 Jahren die geschichtswissenschaftliche Vermessung des ländlichen Raumes, erklärt Oliver Kühschelm, der gemeinsam mit Brigitte Semanek seit dem Vorjahr das Institut leitet. „Es ist wichtig, eine starre Gegenüberstellung aufzubrechen. Es gibt nicht auf der einen Seite ‚die Großstadt‘ und auf der anderen Seite ‚den ländlichen Raum‘, sondern das ist eine ganz große Bandbreite von unterschiedlichen Lebens-, Arbeits-, wirtschaftlichen und politischen Situationen. Und diese zu sehen ist ein Teil unserer Aufgabe.“

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ORF
Mit den 20 Jahrbüchern für Geschichte des ländlichen Raums gelang es dem Institut, sich von St. Pölten aus in den internationalen Diskurs einzubringen

Das Institut blickt auf eine lange Reihe von Aktivitäten in den Bereichen Archivierung und Erschließung, Grundlagenforschung, Wissenschaftskommunikation und Wissensvermittlung an ein breites Publikum zurück. Über den ländlichen Raum, seiner Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft wird regional und international geforscht. Bereits 2003 wurde zudem erstmals das Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes herausgegeben, mit dem es gelang, das neue Institut in den internationalen wissenschaftlichen Diskurs einzubringen, heißt es in der neuen Publikation.

Das Jahr 1989 und damit die Ostöffnung sowie das Jahr 1995, in dem Österreich Mitglied der EU wurde, hätten große Veränderungen in Österreich ausgelöst, in der Stadt wie auf dem Land, so Kühschelm: „Wenn man Filme aus den 1970er-Jahren anschaut, dann sieht man Dörfer, in denen nicht alles hergerichtet ist, es wird eine Gesellschaft gezeigt, die einem fast arm vorkommt. Wenn man diese Zeit aber selbst erlebt hat, dann hat man gar nicht so sehr diese Erinnerung, sondern denkt sich, dass das durchaus schon eine wohlhabende Zeit war. Man sieht jedoch, dass sich in den letzten 30, 40 Jahren ein gewaltiger Reichtumssprung getan hat.“