100 Jahre NÖ Nazis Sozialisten Politikjustiz 1923 Spillern
Gemeinde Spillern
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„100 Jahre Niederösterreich“

1923: Justizskandal nach „Blutbad“ durch Nazis

Anfang der 1920er-Jahre sind die Nationalsozialisten zwar noch eine unbedeutende Kleinpartei, trotzdem zeigten sie bereits besondere Gewalttätigkeit. 1923 wurde in Spillern (Bezirk Korneuburg) ein Bursch erschossen, die Angeklagten wurden aber freigesprochen.

„Spillern war bilderbuchartig für die zunehmenden Konflikte zwischen Nationalsozialisten und Sozialisten“, erzählt Christian Rapp, Wissenschaftlicher Leiter im Haus der Geschichte in St. Pölten. Obwohl die Nazis damals noch eine „unbedeutende Partei“ waren, sahen sie die Sozialisten „als starke Konkurrenz“, sagt Rapp: „Die Nazis haben sich als revolutionäre Arbeiterbewegung verstanden, aber national.“

Die Sozialisten waren damals zwar die viel „bedeutendere Partei, mitgliederstark und gut organisiert“, erklärt Rapp, im Gegensatz dazu waren die Nationalsozialisten in ihrem Auftreten „sehr aggressiv und stark bewaffnet“. Bereits im Herbst 1920, als Adolf Hitler in den St. Pöltner Stadtsälen auftrat, konnte ein Zusammenstoß zwischen Anhängern beider Gruppen nur knapp verhindert werden.

„Schlägertruppe“ aus Wien

Am 29. September 1923 war in einem Gasthaus in Spillern eine Versammlung der Nationalsozialisten geplant. Diese hatten sich mit einer Schutztruppe aus Wien – vor allem Jugendliche – verstärkt. „Ein Schlägertrupp mit 25 Leuten, 17, 18, 19 Jahre alt und schwerst bewaffnet. Man hatte auch den Eindruck, sie sind aus Freude gekommen, dass etwas passieren könnte“, schildert der Historiker.

Bei den Sozialisten – Spillern galt damals als Arbeiterort – sorgte das Treffen für Empörung, dutzende Arbeiter umstellten das Lokal. Die Versammlung wurde daraufhin zwar aufgelöst, die Nazis marschierten auf der Straße Richtung Wien, begleitet von Beschimpfungen und Steinwürfen durch die Bevölkerung, sagt Rapp: „Und plötzlich hieß es ‚Kommando retour, Feuer! Sturm!‘“

Auf dieses Kommando hin fielen mehr als 30 Schüsse. Der unbeteiligte 16-jährige Franz Kovarik, der gerade aus einem Haus kam, wurde von einer Kugel am Kopf getroffen und starb, ein 17-jähriger Tischlerlehrling wurde durch einen Streifschuss verletzt. Am Begräbnis nahmen 15.000 Menschen teil. Der „Volksbote“ schrieb damals von einem „Blutbad“, das die „Hakenkreuzler unter den Arbeitern angerichtet haben“.

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15.000 Menschen nahmen am Begräbnis von Franz Kovarik teil
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Der Anlass war zugleich eine Großkundgebung der Sozialdemokratie gegen den Nationalsozialismus
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SPÖ Stockerau
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Freispruch sorgte für Empörung

Die Täter – insgesamt 28 Männer – wurden festgenommen, fünf davon am 11. Dezember vor Gericht gestellt. Doch trotz belastender Zeugenaussagen wurden die fünf Angeklagten von den zwölf Geschworenen freigesprochen, was in den Medien und der Öffentlichkeit für Empörung sorgte. Die Täter erhielten lediglich geringe Geldstrafen wegen Übertretung des Waffenpatents.

Sendungshinweis

„NÖ heute“, 7.1.2022

Christian Rapp spricht von einer „guten Prozessführung“ im Sinne der Angeklagten und einem „geschickten Verteidiger“, dem es gelang, „so viel Verwirrung hineinzubringen, dass die Geschworenen im Zweifel für einen Freispruch entschieden“. Denn während des Prozesses konnten sich manche nicht mehr erinnern oder die Aussagen waren sehr diffus. „Es war damals ein gewalttätiges Milieu und man unterstellt, dass manche auch unter Druck gesetzt wurden.“

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ORF
Das Grab von Franz Kovarik erinnert in Spillern heute noch an den Tumult, ebenso eine Straße, die nach ihm bekannt wurde

Für viele Beobachter und Sozialisten war es ein weiterer Justizskandal, denn bereits zuvor gab es bei ähnlichen tödlichen Tumulten in Wien ebenfalls milde Urteile für die Täter. Das Gewaltlevel in der Ersten Republik sei generell „enorm hoch“ gewesen, bilanziert Rapp, regelmäßig gab es politisch motivierte Morde oder Raufereien mit schweren Verletzungen.

Blutsonntag in Klosterneuburg

Vier Jahre nach Spillern, im Juli 1927, kam es etwa im Klosterneuburger Freibad zu einem blutigen Tumult. Die Windjacken (Nationalsozialisten, Anm.) begannen laut damaligen Zeitungsberichten herumzustänkern, die Arbeiter ließen sich das nicht gefallen, woraufhin hunderte Menschen mit Schlagstöcken aufeinander einschlugen. „So kann es nicht weitergehen!“, resümierte eine Zeitung. Doch die Republik kam nicht zur Ruhe.

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Anno/Neues Montagblatt

Wenige Tage später brannte – infolge der Urteile im Schattendorf-Prozess – in Wien der Justizpalast. Drei Mitglieder der Frontkämpfer hatten zu Beginn des Jahres 1927 bei Tumulten in der burgenländischen Gemeinde einen Mann und ein Kind erschossen. Der Freispruch der drei angeklagten Männer war für viele Sozialisten der Höhepunkt einer scheinbaren Klassenjustiz. Rapp sieht im Fall von Schattendorf jedenfalls viel Ähnlichkeit mit jenem von Spillern.

Unklar bleibt dem Historiker zufolge, welche Rolle die spätere Ideologie der Nationalsozialisten bei den Beteiligten in Spillern spielte. Denn innerhalb der Partei gab es unterschiedliche Gruppierungen, nicht alle davon wollten sich Adolf Hitler unterstellen, sagt Rapp. In der NSDAP spielten sie später jedenfalls „keine Rolle. Sie sind alle keine Pioniere gewesen“.

In Spillern ist der Name Franz Kovarik und der gewaltsame Tod bis heute nicht vergessen. Als Erinnerung benannte die Gemeinde vor kurzem eine Straße nach ihm, sagt Bürgermeister Thomas Speigner (SPÖ), zudem wurde an seinem ehemaligen Wohnhaus eine Tafel angebracht, „damit jeder sofort weiß, was hier am 29. September 1923 passiert ist“.