100 Jahre NÖ 1943 Wr. Neustadt Bombardierung
Stadtarchiv Wiener Neustadt
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„100 Jahre NÖ“

Als die Alliierten Wiener Neustadt zerbombten

Wiener Neustadt ist während des Zweiten Weltkrieges einer der wichtigsten Rüstungsstandorte des Deutschen Reiches. Ab 1943 wurde die Stadt deshalb 29 Mal zum Ziel alliierter Luftangriffe. 55.000 Bomben legten Wiener Neustadt in Schutt und Asche.

13. August 1943: Zeitzeugen beschreiben den Tag als „schönen Augusttag“, als kurz nach Mittag plötzlich die Sirenen heulten. Manche dachten zunächst an einen Probealarm. „Man ist mehr oder weniger widerwillig in den Keller gegangen“, erzählt Kurt Gindl in einem ORF-Interview. Dann fielen die ersten Bomben. „Die Leute sind in Panik herumgelaufen, keiner hat gewusst, was er machen soll. Dann hat die Fliegerabwehr zu schießen begonnen, es war wie der Weltuntergang“, erinnert sich Maria Pitour.

Die Flugzeuge der Alliierten wurden zwar bereits am Balkan durch Radarsysteme erkannt, allerdings dachte man, dass die Geschwader – wie bereits zwei Wochen zuvor – Richtung Rumänien fliegen würden. „Als sie aber Richtung Wiener Neustadt abdrehten, konnte man nicht mehr reagieren, der Fliegeralarm kam erst wenige Minuten vor dem Angriff“, schildert Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt.

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ORF/Hochmayr/Brossmann
Die erste Angriffswelle verursache in Wiener Neustadt schwere Schäden, 134 Menschen starben, 900 wurden verwundet

„Lauf, lauf um dein Leben“

Dieser erste Angriff war für die Bevölkerung ein Schock. „Man dachte dann nur: ‚Lauf, lauf um dein Leben‘“, ergänzt Pitour. 120 Tonnen Sprengstoff wurden auf die Stadt abgeworfen. Doch sicheren Schutz gab es nur in den Tiefenbunkern in der Stadt, weshalb es an diesem Tag auch viele zivile Opfer gab. Die Bilanz: 134 Tote und 900 Verwundete. Der Luftangriff durch die Alliierten traf die Bevölkerung völlig unvorbereitet.

Denn bis dahin galt die damalige Ostmark und damit auch die Region um Wiener Neustadt als Reichsluftschutzkeller. Während Gebiete im Westen und Norden des Deutschen Reiches bereits seit Ende 1942 systematisch bombardiert worden waren, lagen die Ziele in Ostösterreich außerhalb der Reichweite amerikanischer und englischer Bomber. „Man wusste, dass die alliierten Flugzeuge nicht in der Lage sind, so weit vorzustoßen“, betont Reisner.

Zeitzeugen erinnern sich an den ersten Luftangriff auf Wiener Neustadt („Niederösterreich heute“, 13. August 2003)

Deshalb waren bereits in den Jahren zuvor sehr viele Rüstungsbetriebe aus dem „Altreich“ nach Österreich verlagert worden, „in der Annahme, hier sicher weiterproduzieren zu können“. Während die Produktion in Deutschland schon auf mehrere Standorte aufgeteilt worden war, kam es in Österreich – konkret rund um Wiener Neustadt – sogar noch zu einer Verdichtung. 1942 wurde hier die Hälfte des wichtigsten deutschen Jagdfliegers, die Messerschmitt, produziert.

Rüstungsstandort und Fliegerhorst

Wiener Neustadt war während des Zweiten Weltkrieges einer der wichtigsten Rüstungsstandorte des Deutschen Reiches. Hier befanden sich Flugzeugwerke, eine Fabrik für Lokomotivtender und mehrere Munitionsfabriken. Es waren dies die Wiener Neustädter Flugzeugwerke, daneben waren der Fliegerhorst und der Luftpark Wiener Neustadt für die deutsche Luftwaffe von enormer Bedeutung.

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Die Rüstungsindustrie, vor allem die Luftwaffenproduktion, stand besonders im Visier der Alliierten

Doch diese scheinbar geglaubte Sicherheit änderte sich nach dem gescheiterten Tunesienfeldzug des Deutschen Afrikakorps 1943 schlagartig. Die alliierten Bombergeschwader bedrohten nun von ihren Basen in Tunesien und Libyen die Südflanke des Deutschen Reiches. Die erste Angriffswelle Anfang August galt den Ölförderanlagen von Ploiești (Rumänien), zwei Wochen später flog man laut Reisner ins „Herzen des Deutschen Reiches“, nach Wiener Neustadt.

Im Fadenkreuz der Alliierten

Und das war kein Zufall, denn die Stadt stand zu diesem Zeitpunkt als das Nr. 1 Ziel mit 180 Zielen ganz oben auf der gemeinsamen Zielliste der Amerikaner und Briten. „Die Alliierten haben erkannt: Wenn wir jemals an Land vormarschieren wollen, müssen wir zuerst die Luftherrschaft haben. Um das zu erreichen, müssen wir zuerst die Luftwaffenproduktion zerstören“, erläutert der Militärexperte. Bis zum Ende des Krieges blieb Wiener Neustadt deshalb im Fadenkreuz der Alliierten.

In der Stadt wurde nach dem ersten Schock schnell reagiert. Die Schäden wurden sogar von einer Delegation aus dem Berliner Führerhauptquartier besichtigt. Daraufhin wurde zum einen die Fliegerabwehr von drei auf etwa 100 Geschütze ausgebaut, andererseits wurden Jagdflieger stationiert, die der Abwehr der Angriffe helfen sollten. Und tatsächlich erlitten die Alliierten bei den nächsten Angriffen ab Oktober große Verluste.

Wiener Neustadt im Fadenkreuz der Alliierten („Niederösterreich heute“, 13. August 2013)

Der Schutz der Bevölkerung war jedoch überschaubar. Denn aufgrund des hohen Grundwasserspiegels in der Region konnte „man nicht wirklich Tiefenbunker anlegen“, sagt Reisner, außerdem hatte man dafür auch nicht genug Zeit. Stattdessen wurden Splitterschutzgräben und halb eingedeckte Stellungen errichtet. Doch an schönen Tagen verließ die Bevölkerung die Stadt oft präventiv, weil man Angst vor Luftangriffen hatte.

Die erste Angriffswelle

Die erste Angriffswelle dauerte von August 1943 bis Mai 1944. Ziel war es, die Flugzeugwerke, aber auch den Luftpark zu zerstören, was auch gelang. Die Deutschen mussten den Standort schließlich nahezu aufgeben. Nach der Zerschlagung der deutschen Luftrüstung rückte die Erdölindustrie in den Fokus der alliierten Planungen. Für Wiener Neustadt bedeutete dies vorerst ein Ende der großen Luftangriffe.

Besonders prekär wurde die Lage laut Reisner erst wieder ab Ende 1944, als die Alliierten begannen, verstärkt Verkehrsknotenpunkte zu bombardieren. Wiener Neustadt war damals ein wichtiger Knotenpunkt im Netz der Deutschen Reichsbahn, von wo aus Truppen Richtung Balkan bzw. Südrussland verlegt wurden. Damit rückte die Stadt auf der Zielliste der amerikanischen Bomber wieder nach oben.

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Der Hauptplatz von Wiener Neustadt nach den vielen Bombenangriffen

Zugleich lag Wiener Neustadt auch auf der Flugroute Richtung Wien, erklärt Reisner: „Das heißt, wenn Bomberverbände in Wien wegen zu großer Bewölkung nicht abwerfen konnten, dann waren sie als Ausweichziel auf Wiener Neustadt gebrieft“. Die Folge war, dass gerade die letzten Kriegswochen noch verheerende Auswirkungen mit massivsten Zerstörungen brachten, denn der Bahnhof lag – anders als die Rüstungsbetriebe – mitten in der Stadt.

„Hilflos im Keller“

Für die Bevölkerung bedeuteten die Luftangriffe eine extreme Belastung, vor allem für jene, die in den wenigen Luftschutzkellern Zuflucht suchten, erzählt Reisner: „Dort hat man nur mitbekommen, wie die Einschläge immer näher gekommen sind. Kinder haben geschrien, es gab massive Erschütterungen und die Bevölkerung ist hilflos im Keller gesessen.“ Bei vielen Menschen verursachten die Luftangriffe, die sich über Stunden ziehen konnten, schwere traumatische Folgen.

Die Luftschutzkeller konnten den Bombenangriffen in der Regel standhalten, doch ein Treffer war meist mit einer Verschüttung verbunden. Eigene Einheiten des technischen Dienstes der Luftschutzpolizei mussten dann so schnell wie möglich die Menschen befreien. „Und wir wissen, dass das nicht immer passiert ist“, ergänzt Reisner und schildert einen Fall am Hauptplatz, „wo die Menschen erstickt sind, weil man sie nicht mehr rechtzeitig herausbekommen hat“.

Kein Terrorbombardement

Trotz der großen Zerstörungen ging es den Amerikanern laut Reisner nie darum, die Stadt völlig zu zerstören: „Die Briten haben gesagt, die Deutschen bombardieren unsere Städte, deshalb greifen wir ihre an, egal wo die Bomben runterkommen, Hauptsache sie zerstören etwas.“ Deshalb wurden von der Royal Air Force auch Brandbomben eingesetzt. Das gab es in Österreich nicht, die Amerikaner wollten militärische Einrichtungen treffen, weshalb die Angriffe auch untertags stattfanden.

Fotostrecke mit 12 Bildern

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ORF/Hochmayr/Brossmann
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Ein Problem stellten aber die damals nur begrenzten Möglichkeiten für Präzisionsangriffe dar. Denn nur ein Drittel der Bomben trafen auch das gewünschte Ziel, zwei Drittel landeten im Nahbereich, und das bedeutete meist Wohnbereiche. „Wenn ein Bombenschütze nur um eine Sekunde zu spät den Abzugshebel betätigte oder der Anflug wegen des Beschusses durch die Flak gestört wurde, kamen die Bomben gleich um ein paar hundert Meter versetzt herunter. Das hat zu massiven Verlusten in der Zivilbevölkerung geführt.“

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Kral-Verlag
Markus Reisner: Bomben auf Wiener Neustadt. Kral Verlag, 1.264 Seiten, 29,90 Euro

Für die Menschen in Wiener Neustadt entstand deshalb laut Reisner oft der Eindruck, dass man einem Terrorbombardement ausgesetzt war. „Tatsächlich war das aber nicht so. Die Alliierten hatten keine anderen Möglichkeiten, als das Flugzeugwerk zu zerstören. Sie mussten alles daran setzen, was aber dazu geführt hat, dass die Stadt fast zur Gänze zerstört worden ist.“

Das Ende der Luftangriffe

Der allerletzte Luftangriff amerikanischer Tiefflieger am 2. April 1945 kostete noch 27 deutschen Soldaten das Leben, als eine Bombe mitten in einer Lkw-Kolonne vor der Theresianischen Militärakademie einschlug. Im Laufe des Tages eroberte die Rote Armee die Stadt. Dabei trafen die Soldaten nur noch wenige Zivilisten an, denn viele Einwohner waren vor den Luftangriffen der Amerikaner und den herannahenden Bodentruppen der Sowjets geflohen.

Im Zuge der 29 Luftangriffe wurden etwa 1.400 Menschen, darunter 600 Zivilisten, getötet. Knapp 400 amerikanische und 90 deutsche Piloten fanden über der Stadt den Tod. Tausende Zivilisten wurden zum Teil schwer verletzt, 10.000 Bewohner waren obdachlos. Bis März 1945 wurden an die 55.000 Bomben über Wiener Neustadt abgeworfen.

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Anno/Österreichische Volksstimme

Wiener Neustadt in Schutt und Asche

Zu Kriegsende waren fast zwei Drittel der Häuser komplett oder schwer beschädigt. Nur 18 von 4.178 Gebäuden wiesen damals keinerlei Schäden auf. Wiener Neustadt war damit die am meisten zerstörte Stadt Österreichs und gehört neben Tokio, Hiroshima, Nagasaki, Dresden, Düren, Paderborn und Coventry zu jenen Städten, welche die größten Zerstörungen im Luftkrieg während des Zweiten Weltkrieges hinnehmen mussten.

Ein Schutträumerdenkmal erinnert an den Wiederaufbau der Stadt („Österreich-Bild“, 12. August 1983)

Aufgrund der Zerstörung wurde zunächst überlegt, „dass man Teile der Stadt aufgibt und sie am heutigen Flugfeld West wieder aufbaut“, erzählt Reisner. Die Pläne wurden aber verworfen, da innerhalb der Stadt nach wie vor Unterbauanlagen wie der Kanal vorhanden waren. Somit begann der Wiederaufbau. Doch zuerst mussten zehntausende Tonnen Schutt aus der Stadt gebracht werden.

Mühsamer Wiederaufbau

Die Zivilbevölkerung kehrte nach Kriegsende in die zerstörte Stadt zurück. Bis September 1946 gelang es ihr, etwa ein Drittel der geschätzten 660.000 Kubikmeter Schutt aus der Stadt zu räumen. Die restlichen Aufräumarbeiten vergab der Gemeinderat ab 1947 an Wiener Neustädter Baufirmen, aber auch die Bevölkerung half weiter in Eigenregie mit, die Trümmer zu beseitigen – zunächst vor allem Frauen, weil sich viele Männer in Kriegsgefangenschaft befanden.

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Auch ehemalige Nationalsozialisten mussten beim Wiederaufbau mithelfen und waren dafür in einem eigenen Lager untergebracht, erzählt der damalige Widerstandskämpfer Othmar Raus. Sogar Schüler wurden eingeteilt, erhielten dafür aber Lebensmittelmarken. „Das war kein einfaches Geröll, da ist man auf Ziegel oder Kalk gestoßen, Dachrinnenreste haben dich behindert“, erinnert sich ein Zeitzeuge. Die Ziegel wurden vorsichtig abgeklopft und wiederverwendet.

Sendungshinweis

„NÖ heute“, 18.3.2022

Der Wiederaufbau dauerte mindestens zehn Jahre, die letzten Überreste der Ruinen waren aber bis in die 1960er- und 1970er-Jahre zu sehen. Und noch heute stößt man laut Reisner auf einzelne Erinnerungen, die auf Bombenangriffe schließen lassen, etwa in Parkanlagen, wo man in Bodensenkungen ehemalige Bombentrichter erkennen kann. An Häusern, wo die Fassade unverändert blieb, sieht man noch den Einschlag von Bombensplittern.