Seit Tagen hatten sich die Bewohner von Hochwolkersdorf (Bezirk Wiener Neustadt) vorbereitet – auf den Moment, in dem die Rote Armee im Ort einmarschiert. Wertgegenstände wurden vorsorglich vergraben. Gleichzeitig wurden mit Reisig getarnte Unterstände mit Vorräten gefüllt. In den Unterständen konnte man sich auch verstecken. „Im Inneren wurde Stroh ausgebreitet und wir haben uns einmal ‚zur Probe‘ in die Höhle gelegt“, erinnert sich Johann Hagenhofer.
Dass die Front immer näher rückte, war für die Bevölkerung ab der Karwoche zu hören und schließlich auch zu sehen, als in Wiesmath (Bezirk Wiener Neustadt) die Kirche brannte, erzählt Hagenhofer, der damals in der Gemeinde lebte. „Ich war zwar erst vier Jahre alt, habe aber die große Anspannung und die Angst der Menschen gespürt." Auf dem Berg neben dem Gehöft, in dem Hagenhofer wohnte, wurde ein 15-Jähriger als Wache positioniert.

Russen kamen „mit angelegten Gewehren“
Und trotzdem waren die Bewohner überrascht, als es plötzlich hieß: „Die Russen kommen." „Wir hatten erwartet, dass die Russen auf jenem Weg kommen, der ins etwa sieben Kilometer entfernte Bromberg führt“, schildert Hagenhofer. Doch die sowjetischen Truppen stießen von der anderen Seite über die steilen Waldwege in die Bucklige Welt vor – „mit angelegten Gewehren“.
Ein Beitrag des ORF Niederösterreich zum Jubiläum „75 Jahre Ende 2. Weltkrieg“ aus dem Jahr 2020
Zeit, sich zu verstecken, blieb nicht mehr. Die Bewohnerinnen und Bewohner waren alle im Haus, erzählt der Historiker: "Unser Hofhund ist die Soldaten angesprungen, sie haben auf ihn geschossen und ihn an den Pfoten getroffen. Er hat gewinselt, ist zur Eingangstüre gelaufen und hat mit seiner blutigen Pfote an die Tür geschlagen. Das ist ein Bild, das ich bis heute nicht vergesse.“ Doch die Truppen hatten keine Zeit, sich lange im Ort aufzuhalten.
Denn die Sowjets hatten damit nicht nur die örtliche Bevölkerung, sondern auch die Deutsche Wehrmacht überrascht, die einen Angriff in der Ebene erwartet hatte. Zur Verteidigung wurde dafür an der österreichisch-ungarischen Grenze die Reichsschutzstellung errichtet. „Tatsächlich aber war der Vormarsch aus Ungarn heraus so schnell gewesen, dass die Russen schon in dieser Stellung standen, bevor es gelang, Soldaten heranzuführen“, erklärt Militärexperte Markus Reisner.

Spione in den Wäldern
Mit Hilfe von Frontaufklärungstruppen – Männer und Frauen, die mit einem Fallschirm über Feindgebiet abgesetzt wurden – hatten die Sowjets nämlich eine Lücke in der Verteidigungslinie erkannt. Gleichzeitig hatten die Spione die Waldwege in der Umgebung genau vermessen. „Im Wald hat es auch geheime Funkstellen gegeben, von der die Nachrichten weitergeschickt wurden“, schildert Hagenhofer.
Am 29. März stieß die 6. Panzergardearmee der Sowjets – mit zwei mechanisierten Corps an der Spitze mit jeweils bis zu 20.000 Soldaten – über ein für Panzer „ungeeignetes Gelände“ über die Bucklige Welt nach Niederösterreich vor. „Aber weil dort kaum deutsche Kräfte waren, gelang der Vorstoß über die Rosalia und Hochwolkersdorf in das Steinfeld sehr schnell“, erklärt Reisner.
Erst rund um Wiener Neustadt kam es zu heftigen Gefechten. Etwa 1.200 Kriegsschüler, die damals ihre Offiziersausbildung an der heutigen Militärakademie absolvierten, leisteten Widerstand. Einer der Kompanieführer mit etwa 100 Mann war der spätere Bundespräsident Rudolf Kirchschläger. Entlang der drei südlich von Wiener Neustadt gelegenen Flüsse Leitha, Schwarza und Pitten – die laut Reisner damals Hochwasser führten – stellte man sich den Sowjets entgegen.
Kinder spazierten durch Frontlinie
Deren Ziel war es, den Vorstoß „zumindest zu verzögern, damit sich die Masse der deutschen Kräfte Richtung Wienerwald absetzen konnte, was auch gelungen ist“, sagt der Militärexperte. Die Kämpfe rund um Wiener Neustadt dauerten etwa 48 Stunden. Dabei kam es auch zu einer skurrilen Geschichte, als eine Kinderschar, die aus ihrem Kinderlager flüchtete und zu ihren Eltern wollte, mitten durch die Frontlinie marschierte.
Die Soldaten hatten zunächst nur Kindergesang gehört, woraufhin die Gefechte für kurze Zeit stoppten, „und plötzlich sehen sie, wie eine Kinderschar bei ihnen die Bahnlinie entlang Richtung Stadt vorbeimarschiert“, gibt Reisner die Aussagen wieder, die zwei Zeitzeugen ihm gegenüber gemacht hatten. Nachdem die Kinder weg waren, wurden die Kämpfe fortgesetzt, mit schweren Verlusten. „Von den eingesetzten Schülern war ein Drittel gefallen und ein Drittel schwerstverletzt.“

Ungleicher Kampf zwischen Sowjets und Deutschen
Auf die Zivilbevölkerung brach in diesen Stunden und Tagen unvorstellbares Leid herein. „In der Nacht gab es furchtbare Kämpfe", erzählte Zeitzeugin Anna Handler aus Katzelsdorf (Bezirk Wiener Neustadt) in einem ORF-Interview, „dann sind die Tiefflieger gekommen." „Es war ein ungleicher Kampf, das Verhältnis war zehn zu eins“, sagt Hagenhofer. Am 31. März waren die Sowjets noch in Hochwolkersdorf, am 2. April in Wiener Neustadt und am 5. April standen sie vor den Toren Wiens.
Dem Ort Hochwolkersdorf kam in dieser Phase eine besondere Bedeutung zu. Denn hier befand sich – für wenige Tage – das erste Oberkommando der sowjetischen Truppen auf österreichischem Boden, das Hauptquartier der 9. Sowjetischen Gardearmee. Warum hier? Laut Hagenhofer „war es ein Ort, mit dem man nicht gerechnet hat, oben am Berg, abgelegen, leicht zu verteidigen“. Die Bevölkerung musste dafür ihre Häuser verlassen, das Dorf wurde zum „Hochsicherheitsgebiet“.
Zeitzeugen und Zeitzeuginnen schildern den Einmarsch der Russen
Anfang April fanden im Ort zwei wichtige Verhandlungen statt, die die weitere Entwicklung Österreichs prägen sollten. Im Auftrag der militärischen Widerstandsbewegung um Major Carl Szokoll wurde zunächst am 1. April über eine kampflose Übergabe der Stadt Wien verhandelt. Damit sollten schwere Schäden verhindert und zugleich der aktive Beitrag Österreichs zu dessen Befreiung eingelöst werden, den die Alliierten 1943 in der Moskauer Deklaration eingefordert hatten.
Abenteuerliche Reise über die Front
Zwei Mitglieder wurden deshalb auf eine abenteuerliche Reise geschickt, mit dem Ziel, die streng geheime Kommandostelle der Sowjets zu finden. Bei Gloggnitz (Bezirk Neunkirchen) querten sie die Frontlinie. „In deutschen Uniformen, zum Glück sind sie nicht gleich erschossen worden", meint Hagenhofer. Schließlich wurden sie von der Roten Armee aufgegriffen und in einem verdunkelten Auto an einen strenggeheimen Ort gebracht. Allerdings stiegen sie direkt vor dem Haus der „Freiwilligen Feuerwehr Hochwolkersdorf“ aus.

Den Sowjets waren die beiden Männer zunächst suspekt, doch als sie ihnen Hinweise über die starken Verteidigungsanlagen der Deutschen übergaben, wurden sie vorgelassen. Dabei stellten sie auch drei Forderungen: keine Zerstörung der Wasserversorgung für Wien, ein Ende der Luftangriffe und eine bessere Behandlung der Kriegsgefangene in der Sowjetunion. „Die ersten beiden Punkte wurden auch sofort eingehalten", sagt Hagenhofer: „Die Sowjets dachten, wenn es den Kampf um Wien leichter macht, warum nicht?"
Sendungshinweis
„NÖ heute“, 28.3.2022
Verrat der Aufstandspläne
Zwei Tage später waren die Widerstandskämpfer in Wien zurück. „Bis zum Losungswort und Erkennungszeichen, wann der Aufstand losbrechen soll, war alles genau ausgemacht“, erzählt der Historiker. Doch im letzten Moment wurde der Plan verraten. „Innerhalb der Widerstandsgruppe waren nicht alle begeistert, dass die Sowjets Wien so rasch eroberten, ihnen wäre es lieber gewesen, dass die Amerikaner näherkommen würden.“ Drei der Verräter wurden am 8. April am Floridsdorfer Spitz – „unter demütigenden Umständen“ – hingerichtet.
Obwohl der Aufstand gescheitert war, profitierte die Rote Armee. Durch die genauen Pläne wurde sie bestärkt, Wien vom Westen über den Wienerwald anzugreifen, um die Verteidigungsstellungen zu umgehen. Über den Lainzer Tiergarten konnte sie bis zum Westbahnhof in das Stadtinnere vorstoßen. Wien blieb damit das Schicksal Budapests, wo sich die Kämpfe über mehrere Monate zogen und schwere Schäden hinterließen, erspart. „Und viele Leben wurden damit gerettet“, ergänzt Hagenhofer.
Gespräche über provisorischen Regierung
Doch in Hochwolkersdorf kam es in diesen Tagen zu einem weiteren Treffen. Der ehemalige Staatskanzler der ersten Republik, Karl Renner, der im nahegelegenen Gloggnitz lebte, sprach mit Generaloberst Aleksej Zeltov über die Bildung einer provisorischen Regierung. Renner hatte sich laut Hagenhofer auf diesen Moment genau vorbereitet, „um bei der Wiedererrichtung einer Regierung mitzuwirken“.

Per Telegramm wurde Diktator Stalin, der Renner suchen ließ, um 14.00 Uhr von Hochwolkersdorf gemeldet, dass man Renner gefunden hatte. Innerhalb weniger Stunden, gegen 19.30 Uhr, kam die Antwort von Stalin: „Volle Unterstützung für Dr. Karl Renner“. "Renner hat sich bereits in Hochwolkersdorf bereit erklärt, dass er daran mitwirken wird, wieder ein demokratisches System in Österreich zu errichten“, so Hagenhofer.
Wollte Renner Stalin täuschen?
Renner kehrte zunächst nach Gloggnitz zurück, übersiedelte nur Tage später auf das Schloss Eichbüchl in Katzelsdorf, wo er zwischen 10. und 20. April die Regierungsbildung vorbereitete. Am 15. April schrieb er an Stalin: „Lieber Genosse Stalin, leider habe ich Sie nie persönlich kennengelernt, aber ich kannte Lenin und Trotzki.“ Überraschend ist, dass er Trotzki erwähnte, den Todfeind Stalins: „Es gibt Vermutungen, dass sich Renner als senil darstellen wollte, um Stalin zu täuschen.“
Zudem betonte Renner, dass die Sozialdemokraten mit den Kommunisten „brüderlich zusammenarbeiten“ würden. „Ein Brief, der an Unterwürfigkeit oder Diplomatie nicht zu überbieten war“, schildert Hagenhofer. Doch Stalin war begeistert. Sein Ziel war, in den befreiten Staaten eine Volksfrontregierung zu installieren – ein Bündnis aus schwachen Sozialdemokraten und starken Kommunisten, wobei Letztere dann die Macht übernehmen sollten. „Diese Methode hat im Ostblock vielfach gut funktioniert, aber nicht in Österreich.“
Am 20. April kehrte Renner von Schloss Eichbüchl nach Wien zurück, innerhalb von nur sieben Tagen wurde die Übergansregierung vorgestellt, die zu je einem Drittel aus Kommunisten, Sozialisten und Volkspartei bestand, wobei die Kommunisten die wichtigen Ministerien für Inneres sowie Volksaufklärung und Unterricht bekamen. Zugleich wurde die sogenannte Unabhängigkeitserklärung veröffentlicht.

Renner als Marionette Stalins betrachtet
In den westlichen Bundesländern reagierte man aber zurückhaltend bis ablehnend. Zum einen war damals nur der Osten Österreichs von den Sowjets befreit, zum anderen sahen viele in Renner eine Marionette Stalins. Am Ende ließ man den ehemaligen Staatskanzler aber gewähren, auch unter der Voraussetzung, dass die freien Wahlen nicht der kommunistische Innenminister, sondern ein neutraler Leiter durchführen sollte.
Während also bereits am 27. April 1945 in Wien die Zweite Republik ausgerufen worden war, herrschte in vielen Teilen Niederösterreichs noch Krieg. St. Pölten war etwa bis zur Kapitulation eine Frontstadt. Erst in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 trafen sich in Erlauf (Bezirk Melk) der sowjetische General Dmitri Dritschkin und der US-amerikanische General Stanley Reinhart und feierten gemeinsam den um 00:01 Uhr in Kraft tretenden Waffenstillstand. Der Krieg in Europa war beendet.
Johann Hagenhofer erinnert sich an die Tage im Frühling 1945
Ein Ereignis, das damals aber nicht überall gleich ankam. „Ich glaube nicht, dass wir am Bauernhof genau mitbekommen haben, dass es der 8. Mai war. Wir hatten kein Radio, Zeitungen hat es keine gegeben, aber es hat sich herumgesprochen", meint Hagenhofer, „für uns hat sich dadurch aber nicht allzu viel geändert.“
Eine Wahl mit Überraschung und Entsetzen
Weitreichende Änderungen brachten allerdings die ersten freien Wahlen im Herbst 1945. Die ÖVP gewann mit 85 Mandaten die absolute Mehrheit, die Sozialisten erreichten 76 Mandate und die Kommunisten waren mit gerade einmal vier Abgeordneten im Nationalrat vertreten. „Die Kommunisten waren entsetzt und konnten sich nicht vorstellen, wie es zu diesem Ergebnis gekommen ist“, erzählt der Regionalforscher.
Renner hatte damit die Weichen für die Errichtung der Zweiten Republik gestellt und Stalin in gewisser Weise „überlistet“. Der Führer der Sowjetunion soll darüber auch enttäuscht gewesen sein und Renner als „Verräter“ bezeichnet haben. „Aber für Österreich hat Renner viel geleistet und mit Stolz können wir sagen: ‚Hochwolkersdorf ist der Geburtsort der Zweiten Republik‘“, betont der passionierten Historiker mit Blick auf seine Heimat.