100 Jahre NÖ Gemeindefusion Land Kirchberg Tattendorf
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„100 Jahre NÖ“

Zweckehen, Zwangsheirat und Scheidungen

Bis in die 1960er Jahre haben in den Gemeinden „abenteuerliche Strukturen“ geherrscht. 1965 beschloss das Land, die Zahl der Gemeinden drastisch zu reduzieren. Mehr als 200 wurden zwangsfusioniert, bei manchen endete es mit einer Scheidung.

1. Jänner 1968: Von bisher 700 Einwohnern wuchs die Gemeinde Kirchberg am Wagram (Bezirk Tulln) mit dem Jahreswechsel auf mehr als 3.100 Menschen an. Gleichzeitig lösten sich neun weitere Gemeinden auf. „Wir sind interessiert, dass die Gemeinde Kirchberg weiterhin das wirtschaftliche Zentrum des Bezirkes bleibt“, begründete der damalige Bürgermeister Johann Damböck (ÖVP) die freiwillige Fusion.

Die neun anderen nunmehrigen Katastralgemeinden, die zwischen 127 und 432 Einwohner hatten, erhofften sich vor allem finanzielle Vorteile. „Wir haben als Gemeindeeinkommen nur die Grundsteuer. Die finanziellen Anforderungen sind derart groß, dass wir das in Zukunft nicht mehr schaffen können“, begründete der Bürgermeister von Mitterstockstall, Johann Daschütz (ÖVP), den Schritt.

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Die Zahl der Einwohner der späteren Großgemeinde Kirchberg am Wagram vor der Fusion

In den 1960er Jahren begann für die Gemeinden eine neue Ära. Die Zeit des Wiederaufbaus war nun auch in Niederösterreich weit fortgeschritten. Zudem beschloss der Bund 1962 die Autonomie der Gemeinden. „Das war ein großer Einschnitt, damit konnten sie ab sofort selbst über ihre wirtschaftliche Entwicklung entscheiden“, erklärt Historiker Franz Oswald.

Für Autonomie fehlte Struktur

Das Problem: Die Gemeinden bzw. deren Strukturen waren dafür nicht gerüstet. In Niederösterreich gab es damals 1.652 Gemeinden, davon hatten 1.300 weniger als 1.000 Bewohnerinnen und Bewohner und 72 sogar weniger als 100 Einwohner. Die meisten waren aber reine Verwaltungseinheiten, die gar keine eigene Gemeindeverwaltung hatten, also einen Amtsleiter bzw. Sekretär.

In einem Sonderdruck der Amtlichen Nachrichten wurde die Gemeindezusammenlegung so begründet: „Viele dieser Klein- und Kleinstgemeinden waren so finanzschwach, dass sie mit eigenen Mitteln nicht einmal den ordentlichen Haushalt ausgleichen konnten, geschweige denn, dass man in solchen Gemeinden an die Errichtung von modernen kommunalen Einrichtungen wie Schulen, Kindergärten, Kanalisation, Wasserleitungen, Sportstätten usw. denken konnte.“

„Abenteuerliche Verhältnisse“

Die Amtsstunden waren tatsächlich noch auf wenige Stunden beschränkt – und zwar pro Woche. Stattdessen hätten oft Lehrer oder Gendarmeriebeamte die Gemeindeverwaltung – nebenbei – mitgemacht und auch die Gemeindekasse geführt. „Das waren abenteuerliche Verhältnisse“, erzählt Oswald, „aber ohne jegliche Form, wirklich zu gestalten.“ Die Struktur hätte geradezu nach einer Reform „geschrien“.

Ein Extrembeispiel war der Bezirk Horn, der vor der Reform aus 134 Gemeinden und 156 Katastralgemeinden bestand. Nur drei Gemeinden (Horn, Eggenburg und Gars) hatten mehr als 1.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Nur sechs verfügten über einen eigenen Amtsleiter. In einigen Kleinstgemeinden scheiterte man sogar an der Aufstellung der erforderlichen neun Gemeinderäte (Anm.: Heute gibt es im Bezirk nur noch 19 Gemeinden).

1.000 Einwohner pro Gemeinde als Ziel

Ab 1964 sollte die Gemeindestruktur deshalb auf moderne Beine gestellt werden. Der Landtag beschloss dafür zum einen eine neue Raumordnung, zum anderen eine Änderung der Gemeindeordnung, wodurch ab sofort Gemeindezusammenschlüsse möglich waren. Das Ziel waren zumindest 1.000 Einwohner pro Gemeinde. In den beiden Landtagsfraktionen ÖVP und SPÖ war man sich über diesen notwendigen Schritt einig, betont der Historiker.

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Mit dieser öffentlichen Kundmachung wurden Zwettl und 60 weitere Orte zu einer Großgemeinde fusioniert

Doch hinter den Kulissen waren nicht alle Beteiligten von Beginn an überzeugt. So sah das etwa Landeshauptmann Leopold Figl (ÖVP), in dessen Amtszeit die Grundsatzentscheidung für die Zusammenschlüsse fiel, zunächst sehr skeptisch. Figl fürchtete vor allem um den Verlust zahlreicher ÖVP-Bürgermeister und um seine politische Basis. Doch am Ende setzten sich die „Reformer“ durch, wie Oswald betont.

Finanzielle „Zuckerl“

Die Gemeinden wurden wiederum mit finanziellen Zuckerln gelockt. Gemeinden mit mehr als 1.000 Einwohnern bekamen vom Bund mehr Geld aus dem Finanzausgleich. Zugleich wurden diese Gemeinden bei Bedarfszuweisungen des Landes „in erster Linie berücksichtigt“ und die Beihilfen, die nicht mehr zurückbezahlt werden mussten, wurden verdoppelt, wie es im Antrag an den Landtag hieß.

Die ersten Früchte gab es bereits mit Jahresbeginn 1965: Als erste neue Großgemeinde entstand Randegg (Bezirk Scheibbs) – aus vormals acht Kleingemeinden. Doch nicht überall erfolgten die Zusammenschlüsse so schnell und reibungslos. Vielmehr lösten die Pläne quer durch das Land teils heftige Diskussionen aus, erinnert sich Oswald, vor allem dort, wo ÖVP- und SPÖ-Gemeinden „heiraten“ sollten.

Neue Bildungsstruktur

Parallel zur kommunalen Zusammenlegung wurde auch eine Reform des Bildungswesens umgesetzt. Konkret wurden damals 700 ein- und zweiklassige Volksschulen geschlossen. Denn obwohl die Hauptschule für alle Zehn- bis 14-Jährigen schon 1927 eingeführt worden war, gab es gerade in den Dörfern noch immer ein- und zweiklassige Schulen, in denen Kinder mehrerer Altersstufen gemeinsam unterrichtet wurden.

Gleichzeitig wurde das Netz an Hauptschulen kräftig ausgebaut, zudem Gymnasien und Fachschulen an zentralen Orten etabliert. Laut Oswald war das nur deshalb möglich, weil sich das Einzugsgebiet für die Schulen vergrößert hatte. Besonders kreativ war man etwa in der heutigen Gemeinde Ardagger (Bezirk Amstetten). Als es darum ging, wo die neue Schule gebaut werden sollte, wurde zwischen den vier Ortsteilen mit dem Lineal einfach ein Schnittpunkt errechnet.

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Durch die Zusammenlegungen wuchs auch die Zahl der Städte mit mehr als 10.000 Einwohnern – um sechs auf 20

Die Landesspitzen „nutzten jede Veranstaltung, um dafür zu werben“. Schließlich ging es auch darum, „den Leuten eine Zukunft am Land zu bieten“, sagt Oswald. Denn in den Jahrzehnten davor war Niederösterreich laut Volkszählung von einer stetigen Abwanderung konfrontiert – „weil die Gemeinden nicht imstande waren, die notwendigsten Bedürfnisse zu erfüllen“. Erst ab 1971 sollte es wieder bergauf gehen.

Weinende Frauen mit Kindern

In dieser Phase war vor allem Landeshauptmann Andreas Maurer (ÖVP), der 1966 sein Amt antrat, gefordert, erzählt Oswald, der damals auch dessen Pressesprecher war: „Ganze Ortsdelegationen mit verzweifelten Bürgermeistern und oft weinenden Frauen sind aufmarschiert und haben für die Selbstständigkeit ihrer Gemeinde gekämpft. Vergebens.“ Mit der Auflösung des Amtes waren weniger finanzielle Einbußen als Prestigeverlust verbunden. Auch für die Bürgermeistergattinnen.

Trotz des Widerstands gelang es, dass innerhalb weniger Jahre die Zahl der Gemeinden von 1.652 auf 814 halbiert wurde. Ein großer Schritt, doch das Ziel, dass alle Gemeinden mindestens 1.000 Einwohner hatten, wurde nicht ganz erreicht. Auf Landesebene bildeten sich daraufhin zwei Lager, sagt Oswald: „Jene, die gesagt haben, das ist genug, und die anderen, die auch die restlichen Kleingemeinden fusionieren wollten.“

Auch hier setzten sich die progressiven Kräfte durch, wobei die Zusammenlegungen nicht mehr freiwillig, sondern durch das Gesetz erfolgten. „Nach einem jahrelangen Diskussionsprozess hat die Regierung gesagt, jetzt ist Schluss, wir legen zusammen“, schildert der Historiker. Am 3. November 1971 beschlosss der Landtag die Zusammenlegung, wodurch die Zahl der Gemeinden auf etwa 550 sank.

Widerstand in Dutzenden Gemeinden

Dieser Schritt wurde aber nicht von allen Gemeinden akzeptiert. Die Gegner – etwa 70 Gemeinden – formierten sich in einem Aktionskomitee unter der Führung des Bürgermeisters von Altenwörth (Bezirk Tulln), Hans Knofel (ÖVP), das an Kirchberg am Wagram angegliedert wurde. Weil sie das Gesetz als verfassungswidrig ansahen, wandten sie sich mit einer Beschwerde an das Höchstgericht.

Die Landesregierung setzte unterdessen Kommissäre ein, die die Agenden der einzelnen Gemeinden übernehmen sollten, bis neue Bürgermeister gewählt waren. Doch auch diese Übernahme gelang nicht immer reibungslos, wie in der ehemaligen Gemeinde Tattendorf (Bezirk Baden), die ab 1972 in der zwangsweise gebildeten Großgemeinde Steinfelden aufging. Die Bürgermeister waren davon überzeugt, dass sie nicht mit Gewalt aus ihrem Amt entfernt werden können.

„Das war ein Schlag in die Magengrube“, erzählt der heutige Bürgermeister von Tattendorf, Alfred Reinisch von der Fraktion Unabhängige Liste Tattendorf, die damals entstand. Als seit Jahrzehnten bekannter Weinort war die „Identität plötzlich komplett verloren“, der Name wurde aus allen Landkarten gestrichen. Deshalb wurde die Fusion von Beginn an bekämpft – mit Erfolg.

Scheidung nach 16 Jahren

Als eine von wenigen Gemeinden wurde die einstige Zwangsehe hier nach 16 Jahren wieder aufgelöst. Seitdem gehen Blumau-Neurißhof, Günselsdorf, Tattendorf und Teesdorf (jeweils Bezirk Baden) wieder getrennte Wege. „Das ist ein Beispiel, dass Zwang nicht sinnvoll ist.“ Stattdessen gibt es heute eine starke Kooperation mit den Orten, etwa in Verbänden, „und zwar dort, wo es für jede Gemeinde Sinn macht“, betont Reinisch.

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Tattendorf wehrte sich als traditionsreicher Weinort von Beginn an gegen die Zwangsfusion

Ein Weg, den auch der Bürgermeister von Ardagger (Bezirk Amstetten) und Präsident des ÖVP-Gemeindebundes im Land, Johannes Pressl, nur zu gut kennt. Seine Heimatgemeinde – eine zwangsweise Fusionsgemeinde aus ehemals vier Orten – stand auch vor der Trennung, ehe den Orten wieder „ihre Identität“ zurückgegeben worden sei. Heute verfügt die 3.300-Einwohner-Gemeinde wieder über vier Kindergärten, vier Volks- und Musikschulen und vier Dorferneuerungsvereine.

„Keine homogene Gemeinde“

Den damaligen Schritt zur Fusion bezeichnet Pressl zwar als „richtungsweisend“, weil die Gemeinden durch den Bau von neuer Infrastruktur wie Schulen und Kanalisation gefordert waren und auch die Verwaltung „professioneller“ wurde. Trotzdem wurde aus seinen vier Ortsteilen bis heute „keine homogene Gemeinde“, sagt Pressl und betont, dass ein „Zwang – damals wie heute – absolut nicht mit unserem demokratischen Bild übereinstimmt“.

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Ähnlich argumentiert Pressls Pendant, Rupert Dworak, Präsident des SPÖ-Gemeindevertreterverbandes. Die damaligen Politiker hätten „Weitblick“ bewiesen, „weil die Kleinstgemeinden nicht überlebensfähig gewesen wären“. Erst dadurch sei der Grundstein für die Entwicklung des heutigen Niederösterreichs gelegt worden. Mit den 573 Gemeinden gibt es laut Dworak nun „eine Struktur, mit der man gut arbeiten kann“.

Kooperation statt Fusion

Statt Fusion heißt das neue Schlagwort deshalb Kooperation – sowohl bei Projekten als auch in Verbänden, beim gemeinsamen Fuhrpark, Maschinen, beim Winterdienst oder bei der Abrechnung. Ein aktuelles Beispiel ist für Pressl auch die Kleinstkinderbetreuung, „wo es in kleineren Gemeinden oft nicht ausreichend Kinder für eine Gruppe gibt, aber wenn sich zwei, drei zusammenschließen, schon“.

Sendungshinweis

„Radio NÖ am Nachmittag“, 10.6.2022

Doch wie vor 50 Jahren sieht Pressl auch aktuell einen „Umbruch“ in den Gemeinden, „aber anders als damals“, konkret durch die digitale Entwicklung. Immer mehr Aufgaben wie die Abgabenverrechnung könnten sogar bezirksweit zusammengeschlossen werden, was „eine bessere Spezialisierung“ ermöglicht, „ohne dass der Bürger etwas merkt“. Zudem gewinnen Kleinregionen an Bedeutung, in denen sich Bürgermeister immer öfter austauschen und abstimmen.

Gemeindegrenzen verblassen

Im Alltag der Bürger würden die Gemeindegrenzen ohnedies eine immer geringere Rolle spielen, ist der Präsident des Gemeindebundes überzeugt. Auch deshalb seien die Hunderten Zusammenlegungen bis 1972 im Alltag der Bürger kaum noch Thema, ergänzt der heutige Bürgermeister von Kirchberg am Wagram, Wolfgang Benedikt (ÖVP), auch wenn „damals schon eine große Emotion dahinter war“.

Damit das so bleibt, sei aber der Ortschef umso mehr gefordert, „überall präsent zu sein“ und alle Katastralgemeinden – sei es im Gemeinderat oder bei Projekten – gut einzubinden. Diskussionen wie damals sind heute beinahe verstummt, nur vor zwei Jahren „ist etwas aufgekommen“, als die beiden Fußballclubs Kirchberg und Altenwörth fusionierten.