Martha Keil
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„Menschen im Blickpunkt“

Die Bewahrerin der jüdischen Geschichte

Als in den 80ern die Synagoge in St. Pölten zum ersten Mal renoviert wurde, ist dort das Institut für jüdische Geschichte in Österreich gegründet worden. Dessen Leiterin ist selbst eine Institution: Martha Keil wurde für ihre Arbeit mehrfach ausgezeichnet.

Die Synagoge, ein Symbol des vor 1938 blühenden jüdischen Lebens in St. Pölten, ist seit Wochen eine Baustelle. Zum zweiten Mal steht eine grundlegende Sanierung an, die darin münden soll, dass das Gebäude zum viel besuchten Veranstaltungsort wird – ohne seine jüdische „Seele“ aufzugeben, betont Martha Keil. Sie verschrieb dem Judentum ihr Leben, ohne selbst Jüdin zu sein.

„Es soll eine Gedenk- und Mahnstätte bleiben. Auch wenn die Menschen hierherkommen, um Musik zu hören. Es muss die, die das Haus betreten, zum Nachdenken bringen, wenn sie den Thora-Schrein sehen oder die hebräischen Schriftzeichen. Dann fragen sie sich automatisch: Wo ist die jüdische Gemeinde, die hier betet? Und unsere Aufgabe ist es dann, diesen Menschen Antworten zu geben“, so Keil im Gespräch mit noe.ORF.at.

Aufgabe, gegen Antisemitismus zu kämpfen

Die Antwort: Nach der Vernichtung durch die Nazis kehrte die jüdische Gemeinde nie zurück. Die Synagoge war eine leere Hülle, ehe das Institut für jüdische Geschichte Österreichs Ende der 1980er-Jahre einzog. Seit 2004 wird dieses von der Wiener Kulturhistorikerin Keil geleitet, die ihr Leben dem jüdischen Volk und ihrer Kultur widmet.

Sendungshinweis

„NÖ heute“, 26.12.2022

Die heute 64-Jährige wollte als Kind schon einen Kibbuz (eine ländliche Kollektivsiedlung) in Israel kennenlernen, was sie auch durchzog. Trotzdem kam sie eher zufällig zum Studium der Judaistik in Wien. Je mehr sie sich mit diesem Volk beschäftigte, desto mehr verband sie damit: „Es war ganz sicher kein religiöser Grund, diesen Beruf zu ergreifen. Ich bin keine Jüdin, auch wenn das viele glauben, weil ich mich gut auskenne. Ich bin sozusagen sozialisiert, auch mit den Menschen dieses Volkes. Und ich sehe es als sozialpolitische Aufgabe, gegen Antisemitismus zu kämpfen. Das ist es, was mich antreibt und immer antreiben wird.“

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Synagoge St. Pölten während Umbau
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Renovierungsarbeiten an der Synagoge St. Pölten, eine jüdische Gemeinde gibt es in der Landeshauptstadt nicht mehr
Martha Keil in ihrem Büro
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Martha Keil in ihrem Büro
Jüdischer Friedhof St. Pölten, Gedenktafel
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Die Gedenktafel für die Opfer des Massakers von Hofamt-Priel am St. Pöltner Friedhof
jüdischer Friedhof in St. Pölten, Grabsteine
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Der Friedhof wird nach jahrelangen Forderungen saniert

Damit Ermordete nicht vergessen werden

Es ist aber keineswegs nur die Shoah, die im Mittelpunkt ihrer Forschungen steht. Fragt man sie nach ihrer wichtigsten Forschungsarbeit, dann nennt sie die Rolle der jüdischen Frau im Mittelalter. Es ist ein umfassendes Werk, das in zahlreichen Büchern, vor allem aber in vielen Schachteln mit Forschungsergebnissen in ihrem neuen Büro in der St. Pöltner Innenstadt lagert. Wegen der Restaurierung wurde es aus der Synagoge verlegt. Jetzt arbeitet sie mit elf Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dort. Zuletzt unter anderem an einer Namensliste.

Es sind die Namen jener Menschen, die in den letzten Kriegstagen 1945 von den Nationalsozialisten in Hofamt-Priel (Bezirk Melk) ermordet wurden. Ihre Leichen wurden 1964 in ein Massengrab auf dem jüdischen Friedhof in St. Pölten verlegt. Das Team um Martha Keil forschte 228 Namen aus und verewigte sie auf einer Gedenktafel: „Ich kann es nicht ertragen, wenn Menschen im Gedächtnis keinen Namen haben. Ohne fundierte Forschung bleibt das Gedenken in gewisser Weise hohl, ohne Basis.“

Immer mehr Anfragen für Familienforschung

Nachdem es gesetzlich ermöglicht wurde, dass Nachkommen jüdischer Vertriebener leichter zu einer Doppel-Staatsbürgerschaft kommen, häufen sich die Anfragen an das Institut. Viele wollen ihre jüdische Familiengeschichte erforschen und belegen lassen. Hunderte Anfragen gebe es jährlich. Das Institut sei mit 300 Nachfahren aus aller Welt in Kontakt. Wenn jemand von ihnen nach Österreich kommt, wird auch oft der jüdische Friedhof in St. Pölten besucht.

Dann ist es Martha Keil, die das Zauntor des Friedhofs aufsperrt. Die Inschriften der rund 200 Grabsteine wurden längst abgeschrieben und archiviert. Die Stadt wird den Friedhof nun renovieren. Auch wenn es nicht ihre eigene Geschichte ist – Martha Keil ist die vielleicht profundeste Kennerin des jüdischen Volkes und seiner Geschichte in Österreich.