Arbeitsplätze bei Firma Deckweiss
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Wirtschaft

„New Work“: Firmen rittern um Arbeitskräfte

Niederösterreichs Unternehmen kämpfen mit einem Personalmangel, rund jede zehnte Arbeitsstelle ist unbesetzt. Die Firmen werben mit neuen Ansätzen um Arbeitskräfte: von flexiblen Arbeitszeiten über flache Hierarchien bis zu frisch gekochtem Essen.

Bei der Firma Deckweiss in Purgstall an der Erlauf (Bezirk Scheibbs) hat man das Gefühl, bei einem Start-up im Silicon Valley gelandet zu sein. Im Eingangsbereich lehnen Scooter und ein Fahrrad, auf dem Besprechungstisch liegt eine Pizzaschachtel, an der Wand hängen Paneele mit Trockenmoos, die Mitarbeiter laufen in Socken herum. Wer hier arbeitet, soll sich wohlfühlen.

Das Unternehmen wurde vor fünf Jahren von vier Absolventen der IT-HTL im nahegelegenen Ybbs an der Donau (Bezirk Melk) gegründet. Die ersten Firmenschritte machte man in Gartenhütten, vor kurzem wurde das ebenerdige Büro in Zentrums- und Bahnhofsnähe in Purgstall bezogen. Die Mitarbeiter können sich ihre Arbeitszeiten selbst einteilen, gearbeitet werden kann flexibel im Büro, im Homeoffice oder – sofern die Arbeit dadurch nicht eingeschränkt wird – auch aus dem Urlaub. Eine neue, moderne Arbeitsweise.

„Mitarbeiter sind effizienter und produktiver“

„Wir gehen diesen Weg, weil wir davon überzeugt sind, dass unsere Mitarbeiter effizienter und produktiver sind, wenn sie nicht unter Druck, Stress und Leistungsforderung arbeiten müssen, sondern das Gefühl haben, dass sie gerne zur Arbeit gehen, weil sie sich hier in den Tätigkeiten verwirklichen können und das machen, was ihnen Spaß macht, und nicht das, was sie machen müssen, um Geld zu verdienen“, sagt Valentin Jäch, einer der Deckweiss-Gründer.

zwei der vier Gründer der Firma Deckweiss bei einer Besprechung
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Deckweiss: Start-up-Atmosphäre mitten in Purgstall

Das Unternehmen beschäftigt 13 Mitarbeiter, darunter nur eine Frau (Jäch: „generell ein Problem in der IT-Branche“). Entwickelt wird Individualsoftware: vom Programm für eine Firma, die Covid-Tests abwickelt, über ein Lernprogramm für Musikschulen bis hin zur Augmented-Reality-App für eine Baufirma.

Motivierend soll vor allem auch das Umfeld sein. Das Büro wirkt nicht wie ein klassisches Büro, sondern fast wie ein zweites Zuhause. Der Boden ist aus Holz, es gibt höhenverstellbare Tische, ergonomische Bürosessel, Getränke zur freien Entnahme und eine Chill-out-Area mit Couch und einer Spielkonsole, wenn die Mitarbeiter eine Arbeitspause benötigen.

„Man soll nicht das Gefühl haben, dass man Stunden abarbeiten muss, sondern dass man auch in der Arbeitszeit Freude und Entspannung haben kann. Das Umfeld soll nicht bedrückend, sondern befreiend, beruhigend und entspannend wirken“, erklärt Jäch.

Expertin: „Die Leute wollen nicht mehr schuften“

Deckweiss ist ein gutes Beispiel für den aktuellen Wandel in der Arbeitswelt, der mit dem Begriff „New Work“ umschrieben wird. Lena Marie Glaser beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit dieser modernen Art des Arbeitens und schreibt aktuell ein Buch zu diesem Thema, das im Herbst erscheinen soll.

„Die jungen Leute wünschen sich einen Arbeitsplatz, wo sie sich wohlfühlen. Die Unternehmen, die auf der Suche nach Arbeitskräften sind, haben das verstanden und überlegen sich, wie sie ein gutes Package bieten können, um junge Arbeitskräfte zu gewinnen“, sagt Glaser im Gespräch mit noe.ORF.at.

Konkret gehe es um flexible Arbeitszeiten, eine Vier-Tage-Woche, Work-Life-Balance und Lebensqualität, sagt Glaser. „Die Leute wollen nicht mehr hackeln und schuften, sondern sie wollen Arbeit, die ihnen Freude macht, wo sie Spaß haben.“ Arbeitnehmer wollen außerdem im Unternehmen mitreden und ihre Ideen einbringen. „Gerade junge Beschäftigte wünschen sich, von Tag eins ernst genommen zu werden. Sie wollen gleich mitmachen, sie wollen Feedback und mitgestalten.“

Lena Marie Glaser, „New Work“-Expertin und Buchautorin
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Lena Marie Glaser ist „New Work“-Expertin

Moderne, kleinere Unternehmen hätten bereits erkannt, dass sie neue Arbeitsmodelle anbieten müssen, um die besten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen, meint Glaser. Auch in größeren Unternehmen werde aber mittlerweile immer öfter über „New Work“ diskutiert und diese neue Arbeitsweise ausprobiert, die auch eine neue Art der Führung voraussetzt. „Unter ‚New Work‘ versteht man eine andere Führungskultur, eine andere Leadershipkultur. Es gibt viel Bewegung dahingehend, dass sich die Führungskraft selbst als Coach und Mentor, nicht nur für die Jungen, sieht“, so die Expertin.

In Zeiten des Arbeitskräftemangels werde kaum ein Unternehmen an „New Work“ vorbeikommen, sagt Glaser. „Der Druck steigt, die Zahlen zeigen, dass Mitarbeiterinnen heiß gesucht werden. Der Arbeitskräftemangel ist eine Realität in allen Branchen. Wer wettbewerbsfähig sein will, ist gefragt, ins Tun zu kommen und sich zu überlegen, wie man ‚New Work‘ bei sich im Unternehmen realisieren kann.“

Unternehmen verlieren 400 Millionen Euro pro Jahr

Niederösterreichs Wirtschaft hat längst nicht mehr nur mit einem Fachkräftemangel, sondern generell mit einem Personalmangel zu tun. Nach Angaben der Wirtschaftskammer sind 45.000 Arbeitsstellen quer durch alle Branchen nicht besetzt. Kleinere Unternehmen sind am stärksten betroffen. Betriebe können zum Teil schon jetzt Aufträge nicht mehr annehmen, weil ihnen Arbeitskräfte fehlen.

„Der Fachkräftemangel wird immer akuter, laut letzten Daten kostet dieser Mangel Niederösterreichs Unternehmen rund 400 Millionen Euro pro Jahr – Tendenz steigend. Das entspricht einem BIP-Wachstum von 0,7 Prozent, das nicht realisiert werden kann", so der Präsident der Wirtschaftskammer Niederösterreich, Wolfgang Ecker.

Die Wirtschaftskammer hat kürzlich 1.220 Unternehmen befragen lassen, die große Mehrheit davon hat bereits Maßnahmen gesetzt, um an Arbeitskräfte zu kommen. Die Firmen zeigen sich dabei durchaus kreativ mit Ansätzen.

Im Entsorgungsbetrieb „manchmal wie im Vogelhaus“

Im Abfallentsorgungsbetrieb Jüly in Bruck an der Leitha, der seit seiner Gründung von Frauen geführt wird, wirbt man etwa mit einer guten Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die Lkw-Fahrer sind – wie in der Entsorgungsbranche üblich – oft bereits am frühen Nachmittag mit der Arbeit fertig, im Büro können die Arbeitszeiten bei Bedarf flexibel eingeteilt werden, in der Betriebsküche wird von Montag bis Freitag gegen einen geringen Kostenbeitrag frisch gekocht.

„Ich versuche vorerst einmal, dass sich die Mitarbeiter, die da sind, wohlfühlen und das Unternehmen nicht verlassen. Das führt dazu, dass es eine positive Wirkung und eine Mundpropaganda gibt. Das hat sich in den letzten Jahren bewährt“, sagt Geschäftsführerin Gabriele Jüly.

Entsorgungsbetrieb Jüly in Bruck an der Leitha
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Der Entsorgungsbetrieb Jüly legt Wert auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Die moderne Arbeitsweise mit flexiblen Arbeitszeiten hat aber nicht nur Vorteile. Für die Geschäftsführerin ist es teilweise schwierig, den Überblick zu behalten. „Man hat schon manchmal Angst, die Kontrolle zu verlieren, vor allem wenn man das Gefühl hat, an manchen Tagen ist es wie in einem Vogelhaus“, sagt Jüly. „Der eine sagt, er muss kurz weg, weil zuhause ein privates Problem ist, der nächste fährt kurz einkaufen, der dritte muss das Kind früher abholen. Da denkt man sich, ob es sich mit der Arbeit noch ausgeht oder ob sie auf der Strecke bleibt.“

Die Erfahrung habe jedoch gezeigt, dass die Mitarbeiter in den Tagen und Wochen darauf „sehr motiviert und konzentriert bei der Arbeit“ sind, „weil sie wissen, wenn zuhause etwas nicht passt, werden sie unterstützt und es gibt Verständnis dafür“, sagt Jüly.