Chronik

Kindesmissbrauch: „Höhere Strafen reichen nicht“

Kinderschutzzentren verzeichnen seit Wochen vermehrt Anfragen zu Kindesmissbrauch. Die angekündigten höheren Strafen führen nicht zur Unterlassung, sagt die Leiterin des Kinderschutzzentrums „Die Möwe“ in St. Pölten. Es brauche Schutz und Prävention.

Die wenigsten Missbrauchsfälle würden tatsächlich angezeigt: Schätzungen des Kinderschutzzentrums Waldviertel zufolge, werden nur ein bis zehn Prozent der Fälle von Kindesmissbrauch wirklich verfolgt. Der Grund sei, dass das Thema nach wie vor schambesetzt sei und Kinder und Jugendliche ungern darüber sprechen.

Die Leiterin des Kinderschutzzentrums „Die Möwe“ in St. Pölten, Irene Kautsch, rät im Gespräch mit „Niederösterreich Heute“-Moderator Thomas Birgfellner jedoch genau dazu: Es sei wichtig mit Kindern frühzeitig und präventiv über mögliche Missbrauchsgefahren zu sprechen.

noe.ORF.at: Wie kann es gelingen, dass künftig mehr Fälle von Kindesmissbrauch auf- und schließlich auch angezeigt werden?

Kautsch: Es kann gelingen, wenn wir alle als Gesellschaft ein erhöhtes Bewusstsein dafür haben, dass es in höherem Umfang zu sexuellen Übergriffen an Kindern kommt als wir das glauben und wünschen würden. Und in Folge achtsam mit Signalen umgehen, die Kinder zeigen, wenn es ihnen grundsätzlich einmal nicht gut geht – darauf zu reagieren und achtsam damit umzugehen.

noe.ORF.at: Wie können diese Signale aussehen? Wie kann man als Vater, als Mutter oder im Umfeld erkennen, dass ein Kind womöglich sexuell missbraucht wurde?

Kautsch: Es gibt natürlich vielfältige Signale, die Kinder setzen können. Im schlimmsten Fall können sie auch eine Zeit lang keine besonderen Signale setzen. Aber unsere Aufgabe als Erziehungspersonen, als Eltern, als Gesellschaft ist es achtsam zu bleiben und ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie es dem Kind geht. Wenn ich dann Veränderungen bemerke, wie zum Beispiel ein stärkerer Rückzug, dass das Kind einfach weniger Freude beim Spiel hat, sich mehr zurücknimmt, weniger den Kontakt zu anderen Kindern oder Familienmitgliedern tritt, oder auch umgekehrt vielleicht eher aggressive Verhaltensweisen aufzeigt oder schnell in Wut gerät, da dranzubleiben und mit dem Kind zu forschen, was grad los ist, was es gerade bedrückt oder was diese Veränderungen auslösen könnte.

Irene Kautsch im Gespräch mit Thomas Birgfellner
ORF
Thomas Birgfellner im Gespräch mit der Leiterin des Kinderschutzzentrums „Die Möwe“ in St. Pölten, Irene Kautsch

noe.ORF.at: Wenn sich der Verdacht erhärtet, dass es womöglich zu sexuellem Missbrauch gekommen ist, wie geht man dann weiter vor? Die Hemmschwelle ist natürlich hoch: Sexueller Missbrauch ist ja ein schwerwiegender Vorwurf.

Kautsch: Man muss damit rechnen, dass man mit einem großen Ausmaß an Gefühlen, wie Unglauben, Wut und Ärger, konfrontiert wird. Und darum ist es ganz wichtig sich Unterstützung zu holen. Die Kinderschutzzentren sind dafür da, in diesen Fällen Kontakt anzubieten, damit man die Situation besprechen und gemeinsam mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Kinderschutzzentren einen Plan entwickeln kann, wie weiter vorzugehen ist.

noe.ORF.at: Kindesmissbrauch soll künftig härter bestraft werden, das hat die Bundesregierung angekündigt. Glauben Sie, dass das ein probates Mittel ist?

Kautsch: Das reicht natürlich nicht. Wir wissen, dass die Strafen nicht dazu führen, dass die Handlungen dahinter unterlassen werden. Wir müssen davon ausgehen, dass Kindesmissbrauch weiterhin ein großes Thema ist und, dass die Strafen nicht dazu führen werden, dass er aufhört. Für uns als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Kinderschutzzentren steht im Vordergrund der Schutz der Kinder und Präventionsmaßnahmen die diesen gewährleisten.

noe.ORF.at: Was wäre da in Ihren Augen eine wichtige Präventionsmaßnahmen?

Kautsch: Grundsätzlich ist eine adäquate Aufklärung über den Körper und die Sexualität ein Grundpfeiler in der Erziehung von Kindern. Und da kann es auch dazu gehören, dass man das benennt, was manchmal schief läuft: Dass es Erwachsene gibt, die Handlungen setzen, die nicht passen. Zum Beispiel in die Hose greifen oder den Po angreifen, dass das nicht okay ist, dass das ein Bereich im Körper ist, der nur für das Kind ein Intimbereich ist und wo kein Erwachsener hingreifen darf.

noe.ORF.at: Inwieweit spielen soziale Medien gerade auch beim Thema Kindesmissbrauch eine wichtige Rolle?

Kautsch: Soziale Medien befeuern die Dynamik leider noch. Wenn wir uns die Prozentsätze anschauen an jugendlichen Mädchen, die von sexueller Belästigungen im Netz betroffen sind, da geht es auf 50 Prozent zu. Das heißt, das ist ganz enorme Dynamik, die durch die sozialen Medien entsteht. Es ist einfach eine weitere Möglichkeit für Übergriffe und muss auf jeden Fall stärker ins Bewusstsein gerückt werden.