Bahnhof Tullnerfeld
ORF.at/Lukas Krummholz
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Verkehr

Wie ein umstrittener Bahnhof zum Goldgriff wurde

Als Anfang der 1990er Jahre das heftig umstrittene Projekt eines viergleisigen Neubaus der Westbahn geboren wurde, war auch die Idee eines Bahnhofes im Tullnerfeld, fernab jeder städtischen Infrastruktur, ein Teil davon. Wie sich heute zeigt, war die Idee ein Goldgriff.

Züge verbinden in der Regel Städte und deren Bahnhöfe miteinander. Vor etwas mehr als zehn Jahren wurde mit dem Bahnhof Tullnerfeld das Gegenbeispiel in Betrieb genommen: Dieser liegt zwar an der viergleisig ausgebauten schnellen Weststrecke, eine Stadt gab es aber weit und breit nicht. Das Projekt war belächelt und teilweise kritisiert worden, doch heute weiß man: Es war die richtige Entscheidung. Rund um den Bahnhof entwickelte sich blitzartig Infrastruktur, der Bauboom musste bereits gebremst werden.

Reinhold Hödl war ÖBB-Projektleiter für den Neubau der Weststrecke und erinnert sich im Gespräch mit noe.ORF.at an die heftigen Widerstände in den 90er Jahren. Die ÖBB hätten eine Vision gehabt, die sich als richtig herausgestellt habe, sowohl was die Strecke als auch was den Bahnhof betreffe, sagt er. Dabei hätte ihnen aber auch die Einführung der Parkraumbewirtschaftung in Wien in die Karten gespielt, so Hödl, denn diese fand fast gleichzeitig mit der Eröffnung der Weststrecke und des Bahnhofes Tullnerfeld statt. „Plötzlich wurde den Menschen hier eine Alternative geboten. Für die Pendler stand ein sehr attraktives Angebot zur Verfügung“, so Hödl.

Doppelt so viele Züge, viermal so viele Passagiere

Mitten in der landwirtschaftlich geprägten Umgebung wirkt der Bahnhof Tullnerfeld auch heute noch etwas anachronistisch. Was sich in den zehn Jahren seit seiner Inbetriebnahme entwickelte, verdient jedoch das Prädikat „außergewöhnlich“. Die Zahl der Züge, die im Tullnerfeld halten, verdoppelte sich von 26.814 im Jahr 2013 auf 52.407 im Jahr 2022. Die Zahl der Passagiere vervierfachte sich indessen: 2013 waren es 1.500 Passagiere, heute sind es 6.000 Menschen, die pro Tag im Tullnerfeld aus- oder einsteigen.

Auch die Zahl der Park-&-Ride-Stellplätze wurde in den letzten Jahren vervielfacht. Obwohl der Bahnhof an das Busnetz des Verkehrsverbundes Ostregion gut angebunden ist, ist das Transportmittel zum Bahnhof schlechthin nämlich nach wie vor das Auto. Waren es ursprünglich 300 Park-&-Ride-Stellplätze, so sind es inzwischen fast 2.000.

Autos vor dem Bahnhof Tullnerfeld
ORF.at/Lukas Krummholz
6.000 Menschen steigen heute pro Tag im Tullnerfeld aus oder ein – die meisten kommen mit dem Auto

Drei Gemeinden als Projektpartnerinnen

Mitten durch den Bahnhof verläuft die Gemeindegrenze zwischen Michelhausen und Langenrohr, ebenfalls beteiligt ist die Gemeinde Judenau-Baumgarten (alle im Bezirk Tulln). Gemeinsam betreiben die drei Gemeinden heute die Wirtschaftsregion mit dem Bahnhof als Mittelpunkt. Wie umstritten das Projekt ursprünglich war, bestätigt auch Bernhard Heinl, Bürgermeister von Michelhausen (ÖVP): „Ich habe in der Presse oft vom Bahnhof im Nirgendwo oder in der Pampa gelesen. Wir sind kritisiert und verspottet worden. Heute ist klar, dass es die richtige Entscheidung war.“

Der Bahnhof sei ursprünglich eigentlich immer als Überhol- und Regionalbahnhof konzipiert gewesen, berichtet Georg Hagl, Bürgermeister von Judenau-Baumgarten (ÖVP). Erst im Zuge vieler Diskussionen sei die Möglichkeit eines Personenbahnhofs ins Spiel gekommen. „Das sickerte aber erst langsam in die Köpfe der Menschen“, so Hagl. „Zu Beginn war die Bahn für alle Menschen, die hier wohnten, etwas fürchterlich Böses. Aber dann kam doch die Möglichkeit ins Spiel, hier schnell nach Wien oder nach St. Pölten zu kommen – und da entstanden Synergien, die dazu führten, dass die Leute sagten ‚Ja, das kann auch was Gutes für uns sein.‘“

Bauboom muss eingebremst werden

Die Folge war ein Bauboom. In fußläufiger Entfernung des Bahnhofs wuchsen in den vergangenen Jahren Siedlungen aus dem Boden, ein Rohbau mit mehr als 300 Wohnungen soll aber das vorläufige Ende dieser Entwicklung darstellen. Die Bürgermeister steigen auf die Bremse, um die nötige Infrastruktur nachzuholen, etwa Kindergärten oder Kläranlagen. „Die drei Gemeinden sind in den letzten 15 Jahren von 6.000 auf 10.000 Einwohner gewachsen“, erklärt Leopold Figl, Bürgermeister von Langenrohr (ÖVP). „Das muss in einer so ländlichen Region auch bewerkstelligt werden, das ist nicht so einfach.“ Letztendlich sei es auch eine Frage des Bodenverbrauchs und der Klimadiskussion, so Figl.

Ein Gewinn für die Infrastruktur soll das Primärversorgungszentrum sein, das in unmittelbarer Nachbarschaft zum Bahnhof entsteht. Die Gemeindeärzte der drei Orte taten sich zusammen und konzipierten den Bau mit markanter Holzoptik, der in der Finalphase der Fertigstellung ist. Michael Kaiblinger aus Judenau, Georg Dorninger aus Michelhausen und die Langenrohrer Gemeindeärztin Christa Magerl entwarfen in vierjähriger Planungsarbeit dieses Großprojekt, unter anderem werden drei weitere Ärztinnen und Ärzte dazustoßen, weiters Therapeutinnen und Therapeuten, ein Zahnarzt und ein Kinderarzt – mehr dazu in Hausärzte gründen neues PVZ im Tullnerfeld (noe.ORF.at; 20.4.2022).

Primärversorgungszentrum Tullnerfeld
ORF
Das neue Primärversorgungszentrum soll am 3. Juli eröffnet werden

Wenn alles nach Plan läuft, wird das Zentrum am 3. Juli eröffnet. Michael Kaiblinger bestätigt, dass der Bahnhof ein wichtiges Element der Pläne war: „Der Bahnhof liegt ja direkt am Schnittpunkt unserer drei Gemeinden, der Zentrumscharakter hängt mit dem Wachstum der Bevölkerung und des Bahnhofs zusammen. Deshalb war für uns klar, dass unser Zentrum hier entstehen sollte, für alle gleich erreichbar und mit der nötigen öffentlichen Infrastruktur.“ Tullnerfeld ist der Beweis dafür, dass öffentliche Verkehrsinfrastruktur eine ganze Region beleben und auf eine neue Ebene heben kann.