Inklusion
ORF
ORF
SOZIALES

Wie Inklusion in der Arbeit gelingen kann

2.370 Menschen mit Behinderung sind laut AMS aktuell in Niederösterreich auf Jobsuche. Viele Unternehmen scheuen sich aber davor, die Betroffenen anzustellen. Wie Inklusion gut funktionieren kann, zeigen zwei Beispiele aus dem Waldviertel und St. Pölten.

Die 57-jährige Waldviertlerin Maria Aichinger kennt seit ihrem zweiten Lebensjahr nur die Stille. Als Kind litt sie an einer Gehirnhautentzündung, die unzureichend behandelt wurde und Aichinger gehörlos werden ließ. Nach der Schulzeit machte die 57-Jährige eine Lehre zur Schneiderin, arbeitete viele Jahre in einer Kleiderfabrik in Krems und als Aushilfskraft in der Gastronomie.

„Ziemlich bestes Team“

Der ORF startet ab 12.September eine Projektreihe unter dem Motto „Ziemlich bestes Team“. Die Dokumentationsreihe begleitet Menschen mit Behinderung auf dem Weg der Arbeitssuche.

Dabei werden zahlreiche Förder- und Unterstützungsangebote für Betroffene und Betriebe über das NEBA Betriebsservice angeboten.

Vor neun Jahren wechselte Aichinger die Berufssparte und begann, bei einem Kräuter- und Gewürzhersteller in Sprögnitz (Bezirk Zwettl) in der Verpackungsabteilung zu arbeiten. Die Dolmetscherin Doris Hackl aus Tulln übersetzt die Gebärden von Aichinger für noe.ORF.at.

„Am Anfang war es natürlich schwierig. Es gab viele neue Kolleginnen und Kollegen, die mich ja nicht kannten. Ich musste lernen, ihnen von den Lippen zu lesen. Aber umso mehr man zusammen arbeitet, desto besser klappt es auch mit der Zeit. Kontakt ist das A und O“, so Aichinger.

Wunsch: Zweite gehörlose Arbeitskraft

Den Arbeitsalltag bestreitet Aichinger größtenteils alleine. Pro Tag verpackt die Waldviertlerin, genau wie ihre Kolleginnen und Kollegen, 500 bis 1.000 Packungen Kräuter, Gewürze und Tee. Besonders wichtig sind ihr dabei Routine und ein geordneter Arbeitsablauf. Bei Weiterbildungen und Vorträgen helfen ihr die Kolleginnen und Kollegen mittels Mitschriften aus, zu anderen Terminen holt das Unternehmen eine Dolmetscherin ins Haus.

Inklusion
ORF
Maria Aichinger mit einem ihrer Kollegen beim Verpacken der Kräuter und Gewürze

„Es gibt natürlich kompliziertere Vorträge oder auch betriebliche Termine und Gespräche. Dabei bin ich auf eine Dolmetscherin oder einen Dolmetscher angewiesen. Da schaut die Firma auch darauf, dass das funktioniert“, so Aichinger.

Mit ihrer Arbeit sei sie „sehr zufrieden“ und auch mit den Kolleginnen und Kollegen verstehe sich Aichinger „wirklich gut“. „Das Einzige was ich mir wünschen würde, wäre dass vielleicht doch noch öfter eine Dolmetscherin oder ein Dolmetscher vorbeikommt. Eine andere Idee wäre auch, dass ein zweiter gehörloser Mitarbeiter eingestellt wird. Dann hätte ich jemanden zum Plaudern“, gebärdet die 57-Jährige und lacht.

Bewerbungen berücksichtigen, Chancen geben

Beim zweiten Lokalaugenschein von noe.ORF.at in der Wäscherei des Universitätsklinikums in St. Pölten erzählt Can Degirmencioglu von der fordernden Suche nach einer Arbeitsstelle. Der St. Pöltner kam vor 27 Jahren zu früh zur Welt. Seitdem lebt Degirmencioglu mit einer schweren Sehbeeinträchtigung. Auf einem Auge erkennt er lediglich Licht, auf dem anderen verfügt er nur über 50 Prozent Sehkraft. Dass seine Behinderung jahrelang für zahlreiche Absagen bei der Arbeitssuche sorgte, findet der 27-Jährige schade.

„Es ist noch immer ziemlich schwer für Menschen mit Seheinschränkungen oder für blinde Menschen, einen Job zu finden. Trotzdem können wir genauso arbeiten, wie alle anderen. Viele Betriebe haben sich leider gescheut, mir eine Chance zu geben oder mir eine Probezeit zu genehmigen“, erzählt Degirmencioglu.

Inklusion
ORF
Can Degirmencioglu hat in der Wäscherei ein Farbensystem installiert – die Kübel sind gelb, rot, blau und grün

System nicht durcheinander bringen

Vor zwei Jahren ergab sich für den St. Pöltner dann eine geeignete Arbeitsstelle. „Über die Emmausgemeinschaft St. Pölten habe ich einen Job in der Wäscherei im Krankenhaus bekommen. Ich bin für die Reinigung der OP-Tücher oder etwa Mikrofasertücher zuständig und arbeite ganz normal acht Stunden pro Tag, fünf Tage die Woche. Mir macht die Arbeit Freude.“

Auch Degirmencioglu bestreitet wie Maria Aichinger aus dem Waldviertel seinen Arbeitsalltag größtenteils alleine. In der Wäscherei installierte sich der 27-Jährige ein Farbensystem – die Kübel sind gelb, grün, blau und rot –, damit er weiß, wo die Dinge hingehören. Die Kolleginnen und Kollegen haben für ihn die Schilder größer beschriftet.

„Da ist es mir besonders wichtig, dass niemand dieses System durcheinander bringt. Das wissen meine Kolleginnen und Kollegen aber schon lange. Für mich ist meine Ordnung bei der Arbeitsleistung entscheidend“, betont der St. Pöltner.

Mehr als drei Viertel der Betriebe zahlen Ausgleichstaxe

Ab einer gewissen Größe sind Betriebe gesetzlich dazu verpflichtet, Menschen mit Behinderung anzustellen. Je 25 Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeitern muss eine Person mit Behinderung einen Arbeitsplatz in dem Unternehmen finden. Wird diese Pflicht nicht erfüllt, müssen die Firmen Ausgleichzahlungen leisten.

In Niederösterreich sind laut Statistik des Sozialministeriumservice aus dem Jahr 2021 3.025 Betriebe von dieser Verpflichtung betroffen. Insgesamt 683 kommen ihr nach, 2.342 erfüllen sie nicht und bezahlen rund 23 Millionen Euro Ausgleichstaxe. Dieses Geld wird laut Sozialministeriumservice für die Unterstützung von Menschen mit Behinderung in Zusammenhang mit Ausbildung und Beruf und die Beratung und Förderung von Unternehmen verwendet.

Im Vergleich zum Berechnungszeitraum des Jahres 2020 zeigt sich, dass der gesetzlichen Verpflichtung in Niederösterreich aktuell 33 Betriebe mehr nachkommen und rund eine Million Euro weniger an Ausgleichszahlungen geleistet wird – mehr dazu in Aufholbedarf bei Inklusion in Arbeitswelt (noe.ORF.at, 6.5.22).

Unterstützung für Betroffene und Betriebe

Um Menschen mit Behinderung den Einstieg in die Arbeitswelt in Niederösterreich zu erleichtern, engagieren sich Projekte wie etwa „0>handicap“. Dabei übermittelt das AMS Niederösterreich Menschen mit Behinderung an die MAG Menschen und Arbeit, die diese an einen Betrieb vermittelt. Dort werden die Projektteilnehmerinnen und -teilnehmer zunächst befristet angestellt. Die Betriebe zahlen monatlich 400 Euro, die übrigen Kosten übernehmen das Land, das AMS und das Sozialministeriumservice Niederösterreich.

Mit einem Schwerpunkt von 12. September bis 19. Dezember 2023 begleitet der ORF Menschen mit Behinderung auf ihrem Weg zu einer Anstellung. In Verbindung mit der Dokumentationsreihe werden zahlreiche Förder- und Unterstützungsangebote über das NEBA Betriebsservice angeboten. Dabei sollen Menschen mit hohem Potenzial und guter Ausbildung die Chance erhalten, in den Arbeitsmarkt integriert zu werden. Zudem können sich Unternehmen beraten lassen, wie man Menschen mit Behinderungen ins Unternehmen inkludieren kann.