Pogromnacht in Niederösterreich
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Politik

Der Tag, an dem die Synagogen brannten

Am Donnerstag jährt sich die Reichspogromnacht zum 85. Mal. 1938 setzten Nationalsozialisten und ihre Anhänger im Deutschen Reich – zu dem damals auch das heutige Österreich gehörte – gezielt Gewaltmaßnahmen gegen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger.

Auch in Niederösterreich kam es damals zu Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung. Synagogen und andere jüdische Einrichtungen wurden verwüstet, Schaufenster jüdischer Geschäfte zertrümmert, Juden und Jüdinnen aus ihren Wohnungen und Häusern gezerrt und vertrieben. „In Niederösterreich kam es zu Massenverhaftungen von Juden, Waren und Gelder wurden aus jüdischen Geschäften beschlagnahmt, Fensterscheiben an den von Juden bewohnten Häusern eingeschlagen“, heißt es auf der Website des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands (DÖW).

„Land-Zeitung“: „Mit Stumpf und Stiel ausrotten“

Die in den Zeitungen ausgedrückte Haltung zur „Judenfrage“ sei laut DÖW eindeutig gewesen: „Entweder gehen sie (…), oder sie werden den letzten Rest des jüdischen Vermögens, den sie in Deutschland besitzen, auffressen und dann verrecken. (…) Mit Stumpf und Stiel die Juden ausrotten, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa“, konnte man am 30. November 1938 in der in Krems erscheinenden „Land-Zeitung“ lesen.

Martha Keil
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Martha Keil, Leiterin des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs

Die Pogrome wurden von den Nationalsozialisten bewusst ausgelöst. Vorwand war die Ermordung des Legationssekretärs an der deutschen Botschaft in Paris, Ernst vom Rath, am 7. November 1938 durch den Juden Herschel Grynszpan. Es war aber nicht nur eine Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, in der die Synagogen brannten, sondern die Gewalt gegen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger dauerte von 7. bis 11. November 1938 an.

Keil: „Es war ein Lehrstück an Gewalt“

Martha Keil, Leiterin des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs mit Sitz in St. Pölten: „Es war ein Lehrstück an Gewalt, an Manipulation und an dem, was möglich ist, wozu Menschen aufgehetzt werden können, wenn sie schon sehr bereit gestimmt sind. Und insofern muss man sich solche Mechanismen immer anschauen, sie immer analysieren und immer versuchen, daraus zu lernen. Wie hat das damals kommen können, und was konnte dann weiterhin kommen?“

Die NS-Propaganda sprach von „spontanen Reaktionen des Volkszorns“, auch in St. Pölten. Verhaftungen und Zerstörungen gab es nicht nur in dieser einen Stadt und in dieser einen Nacht, sondern auch tagsüber. Überall waren Teile der Bevölkerung dabei, machten mit oder schauten zu.

„Die meisten gingen mit, weil sie sich bereichern konnten“

„Die meisten Menschen waren sehr bereit mitzugehen, weil sie nämlich als Nutznießer auftreten konnten, weil sie sich bereichern konnten, weil sie dadurch ihre sowieso schon vorhandenen Aggressionen plötzlich völlig ungehemmt und ungestraft ausleben konnten. Und das waren sicher die Aspekte, die in diesem Versuchsfeld sozusagen im Sinne der Nationalsozialisten sehr gut geklappt und sehr gut funktioniert haben“, so Historikerin Keil.

Pogromnacht in Niederösterreich
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„Die meisten Menschen waren bereit mitzugehen, weil sie nämlich als Nutznießer auftreten konnten, da sie sich bereichern konnten“, so die Historikerin Martha Keil über die Motivation der Mitläuferinnen und Mitläufer in St. Pölten

Die Pogromnacht war auch das Ende der jüdischen Gemeinde in St. Pölten, in der Stadt lebten damals etwa 400 Personen, im Umland etwa noch einmal so viele. In der Nacht von 9. auf 10. November 1938 war in der Synagoge St. Pölten ein Feuer gelegt worden, das zunächst gelöscht werden konnte. Am Tag darauf wurde die Synagoge von NS-Anhängern zerstört. Von den früheren Jugendstilfenstern sind nur noch zerstörte Fragmente erhalten.

„Wir können davon ausgehen, dass ein Drittel der Menschen umgekommen ist. Es deutet einiges darauf hin, dass am Land mehr Menschen umgekommen sind als in der Stadt“, sagte der Historiker Christoph Lind vom Institut für jüdische Geschichte Österreichs gegenüber noe.ORF.at – mehr dazu in St. Pölten: Erinnerung an die Reichspogromnacht (noe.ORF.at; 11.11.2015). Nur wenigen gelang rechtzeitig die Flucht ins Ausland.

Niemand wurde wegen der zerstörten Synagoge verurteilt

Im Jahr 1952 kam es im Landesgericht St. Pölten wegen der Reichpogromnacht zum Prozess. „Es waren bis zu 20 Personen namentlich bekannt, die laut Zeugenaussagen an den Zerstörungen der Synagoge beteiligt waren. Es ist aber nicht weiter ermittelt worden, und es gab nur eine einzige Hausdurchsuchung“, erklärte Philipp Mettauer vom Institut für jüdische Geschichte Österreichs gegenüber Robert Friess, noe.ORF.at.

Pogromnacht in Niederösterreich
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Die Ehemalige Synagoge in St. Pölten wird nach der Generalrenovierung im April 2024 eröffnet

Eine Person musste sich schließlich vor Gericht verantworten – sie wurde freigesprochen. Die ehemalige Synagoge wurde in den 1980er Jahren renoviert und wurde seitdem als Veranstaltungszentrum und Gedenkstätte genutzt. Derzeit wird sie adaptiert und erweitert, im April 2024 ist die Wiedereröffnung geplant – mehr dazu in Ein neuer Ort der Erinnerung und Vermittlung (noe.ORF.at; 29.6.2023).

„Konfrontation mit der eigenen Geschichte ist heilvoll“

Keil, Leiterin des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs, hofft auf das bekannte Wort vom „Lernen aus der Geschichte“: „Ich bin überzeugt davon, dass die Konfrontation mit der eigenen Geschichte immer heilsam ist. Ich glaube, dass es einen großen Sinn hat, sich selbst ins Auge zu schauen, der eigenen Spezies auch ins Auge zu schauen.“

Und die ganz aktuellen Entwicklungen würden uns Menschen vor Augen führen, was diese Spezies Mensch anrichten kann und zu tun imstande ist. „Wie verhindert man diese Dinge von Anfang an? Das ist die große Herausforderung von jedem einzelnen Menschen, von der Politik, von allen Institutionen.“