Die beiden Angeklagten und zwei Beamtinnen im Gerichtssaal
ORF/Anna Wohlmuth
ORF/Anna Wohlmuth
Gericht

Prozess in Krems: Rolle der Behörde Thema

Am Landesgericht in Krems ist am Dienstag der Prozess gegen jene zwei Frauen fortgesetzt worden, die für die Qualen eines zwölfjährigen Buben verantwortlich sein sollen. Gutachter und Zeugen waren am Wort, auch die Rolle der Behörde war immer wieder Thema.

Der zweite Prozesstag in Krems war der Tag der Zeugen und Gutachter. Den Auftakt machte jener Arzt, der von der Staatsanwaltschaft Krems nach der Einlieferung des Buben in das Donauspital Wien mit einer Untersuchung beauftragt wurde.

Bei seiner Einlieferung ins Spital hatte der Bub eine Körpertemperatur von 26,8 Grad, der damals Zwölfjährige musste intensivmedizinisch versorgt werden. „Ein paar Stunden später wäre er mit größter Wahrscheinlichkeit tot gewesen“, sagte der Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde Hans Salzer und ergänzte: „Er ist knapp gefunden worden.“

Gutachter spricht von „chronischen Erfrierungen“

Der Gutachter, der mittlerweile in Pension ist, habe 20 Jahre lang die Kinderabteilung im Landesklinikum Tulln geleitet, wo es auch immer wieder zur Versorgung misshandelter Kinder kam. Ein Kind mit einer Körpertemperatur unter 27 Grad sei ihm aber nicht in Erinnerung. Die Tatsache, wie diese Körpertemperatur zustande kam, habe ihn selber vor ein großes Rätsel gestellt. Massive Unterkühlungen kenne man in der Medizin vor allem von Lawinenopfern, erwähnte der Experte.

Der Bub sei massiv abgemagert gewesen, hatte Hämatome und Durchblutungsstörungen. Den Ärzten sei zunächst nicht klar gewesen, ob der Bub etwa unter einer Gefäßentzündung leide. Im Nachhinein wisse man, dass der Bub, der „immer der Kälte ausgesetzt war“, chronische Erfrierungen hatte.

„Eigentlich müssen Alarmglocken schrillen“

Der lebensbedrohliche Zustand habe sich allmählich in den letzten Tagen vor dem 22. November entwickelt, so Salzer der seine Expertise auch im Gespräch mit noe.ORF.at bekräftigt und ergänzt "eigentlich müssten da alle Alarmglocken bei allen Leuten die das sehen, sozusagen schrillen, und sofort ärztliche Hilfe in Anspruch genommen werden. Es sei schwer zu sagen, aber man hätte diesen Zustand sicher „drei bis vier Tage vorher bemerken können“.

Vier Tage davor, am 18. November fand ein Besuch der Kinder- und Jugendhilfe in der Wohnung der Mutter statt. Der zuständige Sozialarbeiter schilderte am Dienstag vor Gericht, dass er keine Grundlage für eine so genannte „Gefahr-im-Verzug-Maßnahme“ gesehen habe. In Folge zweier Gefährdungsmeldungen habe es zwei Besuche von Sozialarbeitern der Kinder- und Jugendhilfe der Bezirkshauptmannschaft in der Wohnung der Mutter gegeben.

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In der Schule fiel der Hunger des Kindes auf

Die erste derartige Meldung kam von der Schule des Buben. Eine ehemalige Lehrerin des Kindes berichtete im Zeugenstand, dass in der Schule – trotz zahlreicher Fehltage – sehr wohl aufgefallen sei, dass das Kind „sehr abgemagert“ war. Am 24. Oktober 2022 habe der Zwölfjährige dann bei einer Gelegenheit zehn Weckerl kaufen wollen, aber kein Geld dafür gehabt. „Da ist uns zum ersten Mal so richtig diese Verzweiflung und dieser Hunger bewusst geworden.“ Tags darauf sei seitens der Schule eine Gefährdungsmeldung versandt worden.

Auf dieser Grundlage kam es am 28. Oktober zu einem ersten unangemeldeten Hausbesuch der Kinder- und Jugendhilfe. Eine Verletzung an der Hand des Buben und seltene Schulbesuche seien dabei u.a. erörtert worden, erinnerte sich eine befragte Sozialarbeiterin. Dass das Kind abgemagert war, sei wegen des legeren Gewands nicht ersichtlich gewesen: „Er war schlank, was man aufgrund der Kleidung sehen konnte, war für uns aber nicht besorgniserregend.“ In den Kühlschrank habe man nicht geschaut, was ein Fehler gewesen sei. Mit dem Zwölfjährigen alleine wurde bei dem Termin auch nicht gesprochen.

Weitere Gefährdungsmeldung durch das Krankenhaus

Nach einer neuerlichen Gefährdungsmeldung durch ein Landesklinikum im Waldviertel gab es am 18. November dann den zweiten unangemeldeten Hausbesuch der Kinder- und Jugendhilfe. Eine mehrere Punkte umfassende Niederschrift sei aufgesetzt worden. Aufgetragen wurden darin beispielsweise eine erneute ärztliche Abklärung sowie eine Begutachtung durch eine Psychologin des Landes mit Termin am 30. November. Generell sei es „extrem kalt in der Wohnung“ gewesen, konstatierte der Sozialarbeiter. „Es stimmt irgendetwas nicht“, war offenbar sein Grundeindruck. Eine Beeinflussung des Buben durch die Mutter sei spürbar gewesen.

Sozialarbeiterin spricht von „surrealer“ Situation

Zu Wort kam am Dienstag auch jene Sozialarbeiterin, die mit ihrem Einschreiten letztlich dafür gesorgt hatte, dass der damals Zwölfjährige im November 2022 ins Krankenhaus kam und überlebte. Die Frau hatte die Kindsmutter einst im Rahmen der ambulanten Elternberatung betreut, danach wurde der Kontakt gehalten.

Am 22. November 2022 hatte die Sozialarbeiterin abends ein „wirres und komisches Telefonat“ mit der Zweitangeklagten geführt, von der sie damals zum ersten Mal gehört hatte. Die 40-Jährige berichtete am Telefon, dass sie ein Video geschickt bekommen habe, auf dem der Zwölfjährige „in bedenklichem Zustand“ zu sehen sei. Aufgrund anhaltender Nervosität der Anruferin entschied die Sozialarbeiterin, sich umgehend gemeinsam mit der 40-Jährigen zur Wohnung der Erstangeklagten zu begeben.

Die Situation vor Ort sei „einfach nur surreal und skurril“ gewesen, gab die Zeugin zu Protokoll: „Ich bin sehr erschrocken.“ Der Bub sei nicht ansprechbar gewesen und auf dem Boden gelegen. „Es war definitiv klar, dass er Hilfe braucht.“ Nach mehrmaligem Fordern der Sozialarbeiterin – zuletzt „laut und scharf“ – verständigte die Mutter die Rettung. „Mechanisch“, so „als würde sie eine Pizza bestellen“. Ein Hauptthema im Kopf der Erstangeklagten sei dann gewesen, ob der Zustand des Kindes „auf sie zurückfallen“ könnte, schilderte die Sozialarbeiterin. „Mehr war nicht. Es war keine Emotionalität.“ Dank habe sie von der Mutter nicht bekommen: „Ich hatte eher den Eindruck, dass sie ‚ang’fressen‘ war.“

Kontradiktorische Vernehmung des Opfers

Im Video der kontradiktorischen Vernehmung des 13-Jährigen berichtete der Bub über Streit und oftmalige Misshandlungen durch seine Mutter in der gemeinsamen Wohnung. Auch die Zweitangeklagte beschrieb er als „nicht so nett“. Generell zeigte sich das Kind in der rund 45 Minuten dauernden Aufnahme eher wortkarg. Nun lebt das Kind bei seinem Vater, der auch die alleinige Obsorge hat.

Der Dreizehnjährige gehe gerne in die Schule und sei „der liebste Bub“, führte der 37-Jährige aus. Körperlich gehe es ihm soweit gut, psychisch sei noch gar nicht absehbar, wie lange er therapiert werden müsse.

Staatsanwaltschaft weitet Anklage aus

Bereits am ersten Prozesstag hatte eine klinische Psychologin Einblicke in das Seelenleben des Kindes gegeben. Sie diagnostizierte das „Vollbild einer posttraumatischen Belastungsstörung“ und ergänzte: „Er sitzt da, schaut einen an und lächelt – aber innerlich ist er ganz woanders.“ Seine Identität, seine Wünsche, seine Bedürfnissen seien ihm genommen worden. Körperlich habe sich der Zustand des Buben wieder verbessert, aus psychischer Sicht sei er auf keinen Fall gesund, so die Sachverständige. Sie erkenne ein „hoch ausgebildetes krankhaftes Zustandsbild“, das ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit jahrelang begleiten werde.

Wegen schwerer Langzeitfolgen weitete die Staatsanwaltschaft am Vormittag die Anklage aus. An dem zu erwartenden Strafrahmen der Erstangeklagten ändert das nichts, ihr wird unter anderem versuchter Mord vorgeworfen. Für die Zweitangeklagte, die wegen des Verbrechens der fortgesetzten Gewaltausübung angeklagt ist, verlängerte sich durch die Ausweitung der Anklage der mögliche Strafrahmen von ursprünglich einem bis zehn Jahren Haft auf fünf bis 15 Jahre Haft.