Angeklagte Prozess Hundebox
ORF/Anna Wohlmuth
ORF/Anna Wohlmuth
Chronik

Bub in Hundebox: Land droht Klage

Mit langjährigen Haftstrafen hat am Donnerstag der Prozess in Krems gegen zwei Frauen geendet. Eine Mutter soll ihren Sohn fast zu Tode gequält haben. Doch auch das Vorgehen der Kinder- und Jugendhilfe wurde vor Gericht thematisiert. Dem Land droht eine Klage.

Nach einer mehr als fünfstündigen Beratung haben die Geschworenen am Donnerstag ihre Entscheidung verkündet: Beide Frauen sind schuldig im Sinne der Anklage. Die Mutter wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt, die mitangeklagte Freundin erhielt 14 Jahre. Zudem werden beide Frauen in ein forensisch-therapeutisches Zentrum eingewiesen. Die Urteile sind nicht rechtskräftig – mehr dazu in Bub in Hundebox: Prozess endet mit zwei Schuldsprüchen (noe.ORF.at, 29.2.2023).

In dem Prozess ist es aber nicht nur um die Rolle der beiden Frauen gegangen. Auch das Vorgehen der Kinder- und Jugendhilfe wurde mehrmals thematisiert. Vom Land wurde bisher immer betont, dass in dem konkreten Fall alle Vorgaben eingehalten worden seien. Die Aussagen von Lehrern, Ärzten und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beim Jugendamt ziehen das jedoch zumindest in Zweifel.

Chronologie der Vorfälle

Das mutmaßliche Martyrium des Buben begann wahrscheinlich im Sommer 2022. Im Herbst erfolgte dann der erste Kontakt mit den Behörden – mit einem Anruf der Mutter bei der Kinder- und Jugendhilfe am 6. Oktober. Sie bat um Hilfe, weil ihr Sohn nicht in die Schule gehen wolle.

Einer Lehrerin fiel gleichzeitig der massive Gewichtsverlust des Buben auf, über die Ferien verlor das Kind fast 30 Kilogramm. In der Schule fehlte er zudem immer wieder wegen angeblicher Verletzungen. Am 13. Oktober suchte die Schule das Gespräch mit der Mutter. Nur zwei Tage später wollte diese plötzlich die Schule für ihr Kind wechseln. Die Lehrerin vermutete ein Fluchtverhalten und informierte am 20. Oktober die Bezirkshauptmannschaft Waidhofen an der Thaya.

Gefährdungsmeldung im Oktober

Am 24. Oktober wollte der Bub zehn Weckerl kaufen, hatte aber kein Geld. Eine Lehrerin gab ihm daraufhin einen Müsliriegel. Trotzdem aß er seinen Klassenkollegen vor Hunger die Jause weg. Noch am gleichen Tag folgte eine Gefährdungsmeldung durch die Schule an die Behörde. Vor Gericht sagte die Lehrerin aus, dass sie mit der Meldung erreichen wollte, dass „irgendetwas unternommen wird“. Laut dem zuständigen Sozialarbeiter war der Inhalt dieser Gefährdungsmeldung „nicht so, dass man sofort hätte tätig werden müssen“.

Vier Tage später – am 28. Oktober – gab es einen Hausbesuch durch die Kinder- und Jugendhilfe. Dass der Bub, wie in der Gefährdungsmeldung angeführt, abgemagert gewesen sei, habe man wegen der Kleidung, die das Kind trug – einer langen Hose und eines langes Leiberl – nicht gesehen bzw. sei für die beiden Sozialarbeiter nicht besorgniserregend gewesen.

Auf die Frage der Richterin, was sich im Kühlschrank befunden habe, gab eine der Sozialarbeiterinnen an, dass man nicht nachgesehen habe – ein Fehler, wie sie vor Gericht eingestand. Stattdessen wurde mit der Mutter vereinbart, dass der Gewichtsverlust ärztlich abgeklärt werden solle. Dass der Bub zuvor Essen gestohlen hatte, sei nicht maßgeblich gewesen. Allein mit dem Kind habe man ebenfalls nicht gesprochen.

Zweite Gefährdungsmeldung im November

Am 4. November lief der Bub von der Schule weg. Die Polizei brachte ihn schließlich nach Hause. Einmal läutete er sogar spätabends bei Fremden an und fragte, ob er dort übernachten dürfe. Am 10. November folgte eine zweite Gefährdungsmeldung – in diesem Fall durch das Krankenhaus, weil die Mutter eine stationäre Aufnahme des Sohnes wegen einer Verletzung verweigerte. Erst sechs Tage später, am 16. November, prüfte die Bezirksbehörde die Dringlichkeit der Meldung und man kam zu dem Schluss: Weder ein persönlicher Kontakt noch ein Hausbesuch sei notwendig.

Am 18. November folgte dennoch eine Kontrolle durch die Kinder- und Jugendhilfe. Dabei wurde die Meldung mit der Mutter erneut besprochen. Jener Sozialarbeiter, der schon beim ersten Kontrollbesuch dabei war, bemerkte zwar die blauen Hände des Buben, außerdem begann der Zwölfjährige beim Gespräch mit dem Beamten zu zittern. Der Beamte fand das selbst auch dubios und auffällig, trotzdem sah er keine Gefahr in Verzug.

Stattdessen hielt man in einer Niederschrift erneut fest, dass die Mutter die Verletzungen ärztlich abklären solle. Außerdem sollte die Mutter mit der Psychologin des Landes sprechen, ein Termin für ein Gespräch sollte am 30. November stattfinden. „Warum so spät“, wollte die Richterin wissen? Weil die Psychologin nur zwei Mal pro Monat nach Waidhofen an der Thaya komme und das der nächste Termin sei, lautete die Antwort.

Mögliche Amtshaftungsklage gegen Land

Vier Tage später, am 22. November, fiel der Bub ins Koma. Der schlechte Zustand hätte aber schon drei bis vier Tage davor auffallen müssen, sagt der medizinische Gutachter und Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde Hans Salzer: „Eigentlich müssten da bei allen, die das sehen, die Alarmglocken schrillen.“ Der Kindesvater wurde trotz der geteilten Obsorge von der Behörde erst wenige Tage vor diesem Vorfall informiert.

Der Anwalt des Kindes, Timo Ruisinger, schließt deshalb auch eine Amtshaftungsklage gegen das Land nicht aus: „Das wird dann nicht auf einer strafrechtlichen Ebene zu klären sein, sondern auf einer zivilrechtichen Ebene, aber ich bin mir sicher, dass da das letzte Wort noch nicht gesprochen wurde und wir werden da dran bleiben.“

Das Land will von den nun bekannten Details nichts gewusst haben und will den Fall nun neu prüfen. Der Bericht der Evaluierungskommission, die das Land nach Bekanntwerden des Martyriums im Vorjahr eingesetzt hat, um den Fall und mögliches Behördenversagen zu prüfen, soll nächste Woche präsentiert werden.