Johann Hagenhofer aus Hochwolkersdorf Jahrgang 1941 Zeitzeuge zu 75 Jahre Ende 2. Weltkrieg
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1945/2020

Johann Hagenhofer: „Die Russen kommen!“

Der pensionierte Gymnasialdirektor und Historiker Johann Hagenhofer hat das Ende des Zweiten Weltkriegs als Vierjähriger in Hochwolkersdorf (Bezirk Wr. Neustadt) in der Buckligen Welt erlebt. „Die Russen kommen!“ – an diesen Ruf erinnert er sich heute noch.

In der zweite Märzhälfte des Jahres 1945 wusste man, dass es nicht mehr lange dauern werde, bis die sowjetischen Truppen kommen werden, erzählt Johann Hagenhofer, der damals in Hochwolkersdorf lebte. „Ich war zwar erst vier Jahre alt, habe aber die große Anspannung und die Angst der Menschen gespürt. So habe ich beobachtet, dass in der Nähe unseres Bauernhofs Unterstände errichtet wurden. Vor eine Erdhöhle, die ziemlich tief in den Hang hineingegangen ist, wurde eine Saustalltür gelegt, die mit Reisigbündeln getarnt wurde. Es wurde ein paar Vorräte und Wasser versteckt, im Inneren wurde Stroh ausgebreitet, und wir haben uns einmal ‚zur Probe‘ in die Höhle gelegt.“

Familie Hagenhofer aus Hochwolkersdorf im Jahr 1944 Johann Hagenhofer im Kreis Jahrgang 1941 75 Jahre Ende 2. Weltkrieg
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Johann Hagenhofer (im Kreis), um 1945

Als dann die sowjetischen Soldaten auftauchten, war die Überraschung sehr groß. „Wir hatten erwartet, dass die Russen auf jenem Weg kommen, der ins etwa sieben Kilometer entfernte Bromberg führt. Sie kamen jedoch von der anderen Seite, aus dem Wald. ‚Die Russen kommen“, hat plötzlich jemand geschrien. Ich bin aus dem Haus gelaufen, weil ich sehr neugierig war. Unser Hofhund ist die Soldaten angesprungen, sie haben auf ihn geschossen und ihn an den Pfoten getroffen. Er hat gewinselt, ist zur Eingangstüre gelaufen und hat mit seiner blutigen Pfote ‚angeklopft‘. Das ist ein Bild, das ich bis heute nicht vergesse.“

Sendungshinweis

„NÖ heute“, 5.5.2020

Für den pensionierten Gymnasialdirektor, passionierten Historiker und engagierten Regionalforscher ereignete sich damals in seiner Heimat Bedeutendes: „Hier ist ganz große Geschichte geschrieben worden. Wir bezeichnen Hochwolkersdorf als ‚Geburtsort der Zweiten Republik‘. Hier war – für wenige Tage – das erste Oberkommando der sowjetischen Truppen auf österreichischem Boden, das Hauptquartier der 9. Sowjetischen Gardearmee. In diesem Haus wurden die Verhandlungen zwischen Dr. Karl Renner und Generaloberst Alexej Scheltow über die Wiedererrichtung der Republik geführt.“

Während am 27. April 1945 in Wien bereits die Zweite Republik ausgerufen worden war, herrschte in der Buckligen Welt bis zum endgültigen Kriegsende noch Ungewissheit. „Ich glaube nicht, dass wir am Bauernhof genau mitbekommen haben, dass es der 8. Mai war. Wir hatten kein Radio, Zeitungen hat’s keine gegeben, aber es hat sich herumgesprochen. Für uns hat sich aber nicht viel geändert, denn auch nach den Kampfhandlungen sind noch immer einzelne Russen gekommen und haben geplündert.“

Mehr über Johann Hagenhofer

Dr. Johann Hagenhofer, Jahrgang 1941, Historiker, Gymnasiallehrer, von 1982 bis 2002 Direktor des BG Babenbergerring Wiener Neustadt, Erwachsenenbildner, Gründer des Museums „Gedenkraum 1945“ in Hochwolkersdorf, Initiator und Leiter zeitgeschichtlicher Projekte in der Region Bucklige Welt–Wechselland, Herausgeber und Autor mehrerer Bücher, zuletzt „Lebensspuren“ (drei Bände) und "Eine versunkene Welt. Jüdisches Leben in der Region Bucklige Welt-Wechselland“.

Johann Hagenhofer aus Hochwolkersdorf Jahrgang 1941 Zeitzeuge zu 75 Jahre Ende 2. Weltkrieg
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Johann Hagenhofer: „Wir bezeichnen Hochwolkersdorf als ‚Geburtsort der Zweiten Republik‘“

Zeitgeschichte kompakt wird im „Gedenkraum 1945“ geboten. Hier werden die Ereignisse im April 1945 dokumentiert, als Karl Renner in Hochwolkersdorf mit den sowjetischen Befehlshabern über die Zukunft Österreichs verhandelte. Da nicht nur Stalin, sondern auch die Westmächte Renner anerkannten und akzeptierten, führten diese Gespräche zur Gründung einer Provisorischen Staatsregierung und waren die „Geburtsstunde“ der Zweiten Republik. Knapp 200 Dokumente und Fotos werden im „Gedenkraum 1945“ gezeigt.

Der Programmschwerpunkt des ORF Niederösterreich

Eine Serie in „Niederösterreich heute“ geht bis 6. Mai auf die historischen Hintergründe ein und beleuchtet die Ereignisse vor 75 Jahren in Niederösterreich. Zeitzeugen erinnern sich an die entscheidenden Momente des Frühjahrs 1945. Johann Hagenhofer (Jahrgang 1941) und Anna Kornfeld (Jahrgang 1934), beide aus Hochwolkersdorf (Bezirk Wiener Neustadt), sowie Gerlinde Stecker (Jahrgang 1929) aus Neunkirchen schildern die Kämpfe der letzten Märztage 1945 sowie die Ereignisse bis zum Kriegsende am 8. Mai.

Auch auf Radio Niederösterreich berichten bis 6. Mai Zeitzeugen über ihre persönlichen Erlebnisse vor 75 Jahren, jeweils nach 12.00 Uhr im „Radio Niederösterreich Mittagsmagazin“. In noe.ORF.at gibt es bis 8. Mai ausführliche Beiträge über das Kriegsende in Niederösterreich, Zeitzeugenberichte und Rückblicke auf die historischen Hintergründe der damaligen Schicksalstage Anfang Mai 1945.

Ein Themenabend im ORF-Fernsehen

75 Jahre Kriegsende nimmt ORF 2 am Mittwoch zum Anlass für einen Zeitgeschichte-Themenabend. Den Auftakt macht um 20.15 Uhr ein von Tarek Leitner moderiertes „Menschen und Mächte“-Spezial live aus dem Newsroom: Im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg waren 1945 viele Städte Österreichs durch massives Bombardement schwer beschädigt oder gar zerstört. Hitler hatte am 30. April 1945 Selbstmord begangen. Am 8. Mai ist der Zweite Weltkrieg offiziell zu Ende. Soldatenfriedhöfe, Bombenruinen und Schutthalden stehen symbolhaft für das apokalyptische Ende der Schreckensherrschaft des NS-Regimes. Jene, die den Holocaust überlebt haben, sind nun befreit, doch viele von ihnen psychisch schwer gezeichnet.

Die Sondersendung behandelt die Wendezeit zwischen Zusammenbruch und Neubeginn, zwischen Befreiung, Kriegsende und den ersten Versuchen des Wiederaufbaus. Neben der zeitgeschichtlichen Reise durch die vier Besatzungszonen wird auch die Frage thematisiert, wie der Glaube an das „Neue Österreich“, an die Zweite Republik und die neue „Identität in Rot-Weiß-Rot“ gewachsen ist. Im Studio analysieren Historikerinnen und Historiker.

Im Zeichen des ORF-Programmschwerpunkts „75 Jahre Ende Zweiter Weltkrieg“ stehen danach die „Menschen & Mächte“-Dokumentationen „Die Zeit der Frauen“ (21.25 Uhr, ORF 2) und „Der Häftling und der Sohn des Lagerleiters“ (22.45 Uhr, ORF 2) sowie das Historiendrama „Die Freibadclique“ (23.35 Uhr, ORF 2).