100 Jahre NÖ 1947 Heimkehrer Transporte Kriegsgefangschaft Wiener Neustadt
Stadtgemeinde Wiener Neustadt
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„100 Jahre NÖ“

Die tränenreiche Geschichte eines Bahnhofs

Mehr als 100.000 Kriegsgefangene, 60.000 davon aus sowjetischen Lagern, kommen zwischen 1945 und 1955 am Bahnhof in Wiener Neustadt an. Für die einen ist der Moment mit Freudentränen verbunden, für die anderen mit Tränen der Enttäuschung.

Über Wochen, Monate, sogar Jahre fuhr Rudolf Rosensteiner immer wieder zum Bahnhof Wiener Neustadt. „Weil er keine Ahnung hatte, ob und wann sein Sohn heimkommen würde“, erzählt sein Enkelsohn Michael Rosensteiner. Deshalb machte er sich jedes Mal, „wenn er wusste, dass ein Zug ankommen soll“, von Baden aus auf den Weg nach Wiener Neustadt.

Zuletzt hatte er seinen ältesten von drei Söhnen 1942 gesehen, als er die HTL in Mödling verlassen und sich zum Reichsarbeitsdienst gemeldet hatte – mit gerade einmal 16 Jahren. Von dort war er in die Deutsche Wehrmacht eingerückt, zunächst bei der Marine, schließlich war er zur Infanterie abgestellt worden und in die Sowjetunion (UdSSR) gegangen. „Die Buben waren damals leicht zu begeistern, weil sie etwas erlebt haben.“

Die Kriegsgefangenen kehren heim

Hunderte Soldaten kommen heim

Umso mehr hoffte Rosensteiner darauf, seinen Sohn nach dem Krieg endlich wiederzusehen. Der erste Transport traf am 28. Mai 1945 mit etwa 250 Männern aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft am Bahnhof Wiener Neustadt ein. Im Juni kehrten etwa 400 Männer bei zwei weiteren Heimkehrer-Transporten in ihre Heimat zurück, darunter vor allem Verwundete, Kranke und Schwache.

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Tausende Menschen warteten vor dem Bahnhof in Wiener Neustadt auf die Rückkehr von Familienangehörigen

Das Wiedersehen am Bahnhof war für alle „eine unglaublich emotionale Situation“, beschreibt Barbara Stelzl-Marx, Leiterin des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung. Obwohl die Ankünfte meist überraschend und kurzfristig bekannt gegeben wurden, drängten sich stets hunderte Angehörige, überwiegend Frauen und Kinder, zu den Waggons – in der Hoffnung, den Vater, Ehemann oder Sohn nach Jahren der Trennung wiederzusehen.

Emotionale Familienzusammenführung

Die Wartenden riefen die Namen der von ihnen Gesuchten und Vermissten. Oft begann vor Ort die beiderseitige Suche nach Angehörigen und Hinweisen nach Menschen, die den Krieg überlebt hatten und die man nun zu finden hoffte. „Wir kennen die Bilder, da sind die Emotionen auf beiden Seiten wirklich gewaltig gewesen. Die größten Transporte fuhren am 3. und 7. Juli 1946 ein, wobei es sich um Entlassene aus der Kriegsgefangenschaft in Großbritannien handelte.“

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Wiener Kurier
Auch die Zeitungen berichteten über die Heimkehrer

Bei den Ankünften der Heimkehrer-Transporte waren meist Repräsentanten der Stadt-, Landes- und Bundesregierung sowie der sowjetischen Verwaltung anwesend. Anlässlich des 25. Transports am 27. November 1947 begrüßte Bundeskanzler Leopold Figl die Heimkehrer, bei der Ankunft des 60. Transport am 21. 0ktober 1953 aus der UdSSR nahm Bundespräsident Theodor Körner die Begrüßung vor.

Banges Warten auf Angehörige

Unter den Wartenden war jedes Mal auch Rosensteiner, der hoffte, dass dieses Mal endlich sein Sohn unter den Heimkehrern sein möge oder er von anderen, die mit ihm im selben Lager gewesen waren, zumindest etwas über ihn erfahren könne. „Das hat natürlich nicht funktioniert“, sagt Rosensteiner, „trotzdem hat er weiterhin jeden Termin wahrgenommen, der überhaupt bekannt wurde.“

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Als die Züge in Wiener Neustadt ankamen, gab es für Soldaten und Angehörige kein Halten mehr

Die Ungewissheit über die Angehörigen belastete damals tausende Familien, weiß die Leiterin des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung: „Es hat immer wieder Menschen gegeben, die regelmäßig zum Bahnhof gefahren sind, in der Hoffnung, dass der Angehörige unter den Heimkehrern ist oder sie zumindest Hinweise bekommen, wo sich die Angehörigen befinden, ob sie überhaupt noch am Leben sind.“

„Skora damoi“ – „Bald geht es nachhause“

Die Repatriierung wurde zwar vom Innenministerium organisiert, trotzdem war nicht immer klar, wann Züge ankommen und wer unter den Heimkehrern sein würde. Gerade in den ersten Jahren nach dem Krieg gab es auch noch keinen Briefkontakt. Zudem wurden die Kriegsgefangenen immer wieder vertröstet, sagt Stelzl-Marx. „Auf die Frage, wann sie nachhause dürften, hieß es nur ‚Skora damoi‘ – ‚Bald geht es nachhause‘.“

Die Kriegsgefangenschaft selbst beschreibt Stelzl-Marx als eine „ganz harte Zeit“. Der Grund dafür waren vor allem die Rahmenbedingungen. Zum einen das raue Klima bzw. die extrem kalten Winter, in denen die zerstörte sowjetische Wirtschaft wieder aufgebaut werden musste. Die Kriegsgefangenen wurden im Straßen- und Bergbau eingesetzt und errichteten Gebäude, „die auch bis heute den Ruf haben, sehr gründlich und gut gebaut worden zu sein“.

Josef Smetana erinnert sich an die Rückkehrer-Transporte in Wiener Neustadt

Gleichzeitig war die Verpflegung äußerst schlecht, betont die Historikerin: „Viele kamen nicht zuletzt deshalb extrem abgemagert und sehr dünn aus der Kriegsgefangenschaft zurück, man spricht auch von einer völligen Auszehrung.“ Oft spielten auch Krankheiten und Unfälle eine Rolle.

„In der Sowjetunion ging es allen schlecht“

Die Historikerin weist jedoch auf einen konkreten Unterschied zum Deutschen Reich hin. Denn unter NS-Herrschaft waren sowjetische Kriegsgefangene gezielt als „Untermenschen“ angesehen und „absichtlich schlecht behandelt“ worden. Die Mortalitätsrate, etwa im Lager STALAG XVII B in Gneixendorf (Bezirk Krems), war bei 60 Prozent gelegen, bei Briten oder Amerikanern bei gerade einmal einem Prozent. Anders sei die Lage in der Sowjetunion gewesen, so die Historikerin: „In der Sowjetunion ist es generell allen Menschen schlecht gegangen.“

Ähnliches berichtet auch Michael Rosensteiner von der Gefangenschaft seines Vaters, der die meiste Zeit in Nischni Nowgorod – etwa 1.000 Kilometer östlich von Moskau – verbrachte und u.a. in einer Chemiefabrik Kessel reinigen musste. „Er hat erzählt, dass man, wenn man arbeiten wollte, nicht wirklich Hunger gelitten hat. Wirklich schlecht ist es nur jenen gegangen, die vor Stolz nicht arbeiten wollten.“

Fotostrecke mit 2 Bildern

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Sammlung Michael Rosensteiner
Ein Portrait von Rudolf Rosensteiner, das ein ehemaliger Mithäftling zeichnete
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„Dem Kameraden Rosensteiner Rudolf aus Baden bei Wien aus Dankbarkeit gewidmet"

Doch vielen anderen Kriegsgefangenen sei es „noch viel schlimmer gegangen als meinem Vater“, ergänzt Rosensteiner. Viele seien an Krankheiten oder totaler Erschöpfung bei der Arbeit gestorben. Zwar sei auch sein Vater am Ende völlig abgemagert gewesen, allerdings hätte er sich immer zusätzlich Arbeit gesucht, die in der Regel auch mit einer Zusatzration Essen verbunden war. „Er hat sich immer gemeldet, ob zum Tapezieren oder als Installateur, obwohl er von alledem nichts verstanden hat, aber er wollte nur überleben.“

Vater erkannte Sohn nicht wieder

Im Februar 1948 war es auch für seinen Vater endlich so weit. Mit einem der letzten großen Heimkehrer-Transporte kam Rudolf Rosensteiner zurück. Allerdings hatte er sich so stark verändert, dass ihn der eigene Vater nicht mehr erkannte. „Er hat sich äußerlich so stark verändert, ich kann mir vorstellen, dass er eher ungepflegt und abgemagert war, dass mein Großvater am Bahnhof zunächst an seinem Sohn einfach vorbeigegangen ist.“ Der Sohn musste sich erst selbst bemerkbar machen, damit der Vater ihn wiedererkannte.

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Sammlung Michael Rosensteiner
Der Entlassungsschein von Rudolf Rosensteiner aus seiner Kriegsgefangenschaft
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Nach 1949 wurden die Heimkehrer-Transporte jedoch eingestellt. „Stalin sagte, es gebe in der Sowjetunion keine Kriegsgefangene mehr, sondern nur noch Kriegsverbrecher“, erklärt Stelzl-Marx, darunter waren sowohl Kriegsgefangene als auch Zivilisten, die während der sowjetischen Besatzungszeit in Niederösterreich etwa als Spione verhaftet, verurteilt und in die Sowjetunion geschickt wurden.

Der Niederösterreicher Herbert Kilian wurde als 19-Jähriger zu drei Jahren Gulag verurteilt, weil er dem Sohn eines sowjetischen Kommandanten eine Ohrfeige gegeben hatte. Der Vorwurf: Rowdytum. Drei Jahre verbrachte er zunächst auf der Kolyma-Fernstraße – am äußersten Rand der Sowjetunion – und danach noch einmal drei Jahre in sowjetischer Freiheit. „Erst sechs Jahr später ist er zurückgekommen, als 25-jähriger Mann ohne Ausbildung, der sich erst alles aufbauen musste.“

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Bundeskanzler Julius Raab empfängt den letzten Heimkehrer-Transport am Bahnhof in Wiener Neustadt

„Das waren erlogene Todesursachen“

Mehrere hundert andere Österreicherinnen und Österreicher wurden hingegen nach ihrer Verurteilung nach Moskau gebracht, erschossen und in ein Massengrab geworfen, weiß Stelzl-Marx. Deren tatsächliche Schicksale wurden erst in den letzten Jahren bekannt. Nach Stalins Tod wurde Österreich zwar über deren Tod informiert, „das waren aber erlogene Todesursachen. Was tatsächlich passiert ist, haben einige Familien erst jetzt erfahren.“

Sendungshinweis

„NÖ heute“, 4.4.2022

Die letzten Kriegsgefangenen kamen erst nach dem Staatsvertrag 1956 aus dem Osten in die Heimat zurück. Diese Gruppe nannte man aus gutem Grund die „Spätheimkehrer“. Sie hatten die Zwangsarbeit in den Lagern der Sowjetunion und damit Sibirien überlebt und litten unter den Folgen der Unterernährung sowie der körperlichen und seelischen Belastungen. In Summe waren etwa 130.000 Österreicher in sowjetischer Gefangenschaft gewesen, darunter an die 22.000 Niederösterreicher.

Tausende Schaulustige und Angehörige empfingen die Heimkehrer in Wiener Neustadt

Diejenigen, die auf der Wiener Neustädter Heimkehrerstraße, wie die breite Straße vom Bahnhofsplatz zur Kollonitschgasse später genannt wurde, nun definitiv in die Freiheit entlassen wurden, waren zu Opfern zweier Diktaturen geworden. Die „Spätheimkehrer“ hatten ihre Familienangehörigen sogar über ein Jahrzehnt nicht gesehen.

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Sammlung Michael Rosensteiner
Rudolf Rosensteiner nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion

„Große Liebe“ war nach Rückkehr verheiratet

Rudolf Rosensteiner hatte sich zu diesem Zeitpunkt wieder einigermaßen in das „normale“ Leben integriert. In einer speziell für Heimkehrer eingerichteten Unterrichtsklasse machte er die Matura nach und stieg ins Berufsleben ein. „Die Wiedereingliederung ist ihm nicht so schwergefallen, aber natürlich hat sich sein Leben komplett verändert“, erzählt Sohn Michael. Vor dem Krieg hatte er seine „große Liebe“ kennengelernt, nach seiner Rückkehr musste er feststellen, dass sie mittlerweile verheiratet war.

Was sowohl seinen Vater als auch seine Mutter geprägt habe, sei die Ernährung. „Sie haben damals so viel gehungert, dass sie dem Zeit ihres Lebens alles untergeordnet haben “, erzählt Michael Rosensteiner, „das Wichtigste war, dass immer genug Lebensmittel da waren und genug gekocht wurde. Also der Hunger muss schrecklich gewesen sein.“

Von Alpträumen geplagt

Physisch gesehen hatte Rudolf Rosensteiner seine Kriegsgefangenschaft gut überwunden, doch psychisch litt er, wie so viele andere, noch Jahrzehnte an den Folgen. „Die schlimmsten Erinnerungen sind – da war ich sechs oder sieben Jahre alt –, dass wir zwei Mal oder auch öfters in der Nacht ins Schlafzimmer gestürmt sind, weil mein Vater, von Alpträumen geplagt, schweißgebadet aufgewacht ist und schrie.“

Die Erlebnisse hätten ihn bis weit in die 1970er-Jahre hinein verfolgt. Gesprochen wurde darüber aber nur „in weinseliger Runde, sonst eigentlich nicht“, erinnert sich sein Sohn, „da war er aber nicht allein. Die meisten wollten das einfach nur vergessen.“