100 Jahre NÖ SCS 1976 Eröffnung Handel
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„100 Jahre NÖ“

Neue Einkaufsstadt versetzt Händler in Panik

1976 beginnt für den heimischen Handel eine neue Ära. In Vösendorf eröffnet die erste Einkaufsstadt in Österreich: die Shopping City Süd (SCS). Viele kleine Händler fürchteten damals um ihr Geschäft. Auch Wien ist die SCS seit jeher „ein Dorn im Auge“.

500 Meter lang, 230 Meter breit, und eine zwei Kilometer lange Ladenfront, die sich über zwei Etagen erstreckt – mit der Eröffnung der SCS am 22. September 1976 war unmittelbar vor den Toren Wiens eine der größten Einkaufsstädte Europas entstanden. Gleichzeitig begann damit in Österreich eine neue Ära: das Zeitalter der Hypermärkte.

Bereits kurz nach der Eröffnung waren die 5.300 Parkplätze besetzt, die Shopping City wurde von den Konsumentinnen und Konsumenten förmlich gestürmt. Billiggeschäfte wie Carrefour und elegante Fachgeschäfte waren hier unter einem Dach vereint. Hans Dujsik, SCS-Geschäftsführer, rechnete mit dem sicheren Erfolg: „Der große Handel aus dem Ausland hat diese Gelegenheit wahrgenommen, um auch in Österreich Fuß zu fassen.“

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SCS Baustelle 1976
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Blick auf die Baustelle: Hier entsteht die SCS vor den Toren Wiens
SCS Baustelle 1976
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SCS Baustelle 1976
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SCS Eröffnung 1976
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1976 wurde die Shopping City feierlich eröffnet
SCS Eröffnung mit Kreisky
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Auch Bruno Kreisky war vor Ort
SCS 1976
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SCS Eingang 1980
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1980
SCS-Gründer Hans Dujsik
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SCS-Gründer Hans Dujsik

Pionierarbeit

„Die Idee war für die damalige Zeit relativ jung und eine Pionierarbeit“, erzählt Hannes Lindner, Geschäftsführer des Badener Beratungsunternehmens „Standort + Markt“. Das Konzept kam – wie vieles in dieser Zeit – aus den Vereinigten Staaten: „Ein großes Einkaufszentrum an einem Autokunden-orientierten Standort.“ Und das Konzept schlug ein.

Massenhafter Andrang zur Eröffnung

Die Planungen dafür begannen bereits Anfang der 1970er-Jahre. Inmitten von Ackerland und aufgelassenen Ziegelteichen wollte Unternehmer Hans Dujsik im Süden von Wien eine Einkaufsstadt entstehen lassen. Vorbild war damals die Südstadt, sagt Lindner. Dort war in den 1960er-Jahren ein komplett neuer Stadtteil für etwa 5.000 Menschen entstanden. Mittendrin – wenn auch wesentlich kleiner – wurde ein erstes Einkaufszentrum errichtet.

SCS setzt neue Maßstäbe

Mit dem Beginn der 1970er Jahre öffneten schließlich die ersten Großmärkte: 1970 war zunächst das DEZ in Innsbruck an der Reihe, mit 11.000 m² Verkaufsfläche, fünf Jahre später folgte das Donauzentrum in Wien, das etwa die doppelte Verkaufsfläche bot. Mit der Eröffnung der SCS wurden in Österreich aber neue Maßstäbe gesetzt: 80.000 Quadratmeter Verkaufsfläche und 160 Geschäfte.

Für viele Kundinnen und Kunden bot die SCS ein völlig neues Einkaufserlebnis. So war die SCS etwa vom Bau weg vorwiegend auf den Autoverkehr ausgerichtet, wodurch man den Einkauf bequem nach Hause bringen konnte. 1977 wurden bereits an die 7,5 Millionen Besucherinnen und Besucher gezählt. Die Shopping City selbst rechnete zu Beginn mit einem Jahresumsatz von etwa drei Milliarden Schilling. Nach sechs Jahren sollte dieses Ziel auch erreicht werden.

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Zu Beginn war die Shopping City Süd noch etwas kompakter
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Die Shopping City Süd bekam von den Behörden sogar eine eigene Ortstafel
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Die Parkplätze am Eröffnungstag am 22. September 1976
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Furcht und Panik

Während die Geschäfte und Großmärkte in der Shopping City Süd mit Sonderangeboten lockten, fürchteten die Gewerbetreibenden und Einzelhandelsgeschäfte in den Bezirken Mödling und Baden die übermächtige Konkurrenz ausländischer Konzerne. Deren kühne Umsatzerwartungen versetzten eingesessenen Händler in und um Wien gar in Panik. Intern wurden Maßnahmen gegen den beginnenden Vernichtungswettbewerb im Handel besprochen.

Furch und Panik bei kleinen Händlern

Nach außen hin gab man sich trotz allem zuversichtlich: „Wir können uns wehren“, meinte damals etwa Lebensmittelkaufmann Hans Rataj, „wir werden nicht nur so wie bisher verkaufen, sondern auch unseren Kundenservice intensivieren und Ware, die in Supermärkten besonders günstig angeboten wird, aus unseren Regalen nehmen.“ Befürchtung, dass Kunden abwandern, habe man nicht, meinte er.

Die Lebensmittelkette Konsum reagierte auf die Eröffnung der SCS allerdings mit einem Ausbaustopp ihrer Märkte in Wien und startete in Niederösterreich eine gezielte Kampagne mit Angeboten, um der Abwanderung Richtung Hypermarkt einen Riegel vorzuschieben. Konsum-Direktor Hans Purzer warnte bereits damals vor einem zu großen Flächenangebot: „Dadurch entsteht ein Sog, der Kaufkraft und Steuerkraft absaugt.“

Liefer-Boykott

Auch das Carrefour-Warenhaus mit seinen 38.000 Artikeln, das die meiste Fläche in der SCS inne hatte, bekam den Ärger zu spüren. An die 20 Herstellerfirmen hatten den Konzern mit einer Liefersperre belegt. SCS-Betreiber Dujsik konterte damals auf die Frage, ob er mit der SCS das Greißler-Sterben vorantreibe: „Ich glaube nicht, dass ich es bin, der den Greißlern den Tod wünscht, ich liebe meinen Greißler.“

Greißlermuseum mit alter Registrierkasse
Greißlermuseum
Viele kleine Greißler fürchteten wegen der SCS um ihr Überleben

Doch auch in der SCS war anfangs nicht alles Gold, was glänzt, weiß Lindner: „Was man am Anfang geglaubt hat, dass es sofort ein durchschlagender Erfolg wird, hat wohl länger gedauert.“ Nach einigen Jahren musste etwa Carrefour die Segel streichen. Das Konzept Hypermarkt sei in Österreich nicht angenommen worden, hieß es. Lindners Begründung heute: „Die Fachgeschäftswelt in den Wiener Einkaufsstraßen war sehr gefestigt. Gegen die Beratung war schwer anzukommen.“

Mödling leidet unter Konkurrenz

Anders war die Situation in Mödling. Die Stadt litt stark unter der SCS, erzählt Lindner: „Mödling hat sich dadurch nicht entwickeln können, wurde klein gehalten und hat über Jahre mit massiven Leerständen zu kämpfen gehabt.“ Baden und andere Orte spürten die Auswirkungen ebenfalls, wenn auch nicht so stark. Als Reaktion entstanden damals verstärkt Ortsmarketing-Kampagnen wie „Fahr nicht fort, kauf im Ort“.

Führen große Einkaufszentren nur zu „Gleichmacherei“?

Aus Sicht der SCS war das Wiener Hinterland damals aber ohnehin noch „ein zartes Pflänzchen, noch nicht so dicht besiedelt, wie wir es heute kennen“. Deshalb habe man von Beginn an auf das Wiener Publikum geschielt – was der Wiener Politik „über lange Zeit ein Dorn im Auge war“, erzählt der Handelsexperte, „weil es unlustig ist, direkt an der Stadtgrenze einen Konkurrenten zu haben, der aufzeigt und immer größer wird.“

Um Kosten zu sparen, wurde die Shopping City außerhalb Wiens errichtet. Damit floss und fließt allerdings viel Kaufkraft nach Niederösterreich. Daraus erklärt sich laut Lindner auch die zwiespältige Haltung der Wiener Landesregierung gegenüber der SCS, etwa die mangelhafte Anbindung durch die Wiener „Öffis“ – nach dem Motto: „Wenn sie es schon dort errichten, sollen die Wiener bitte mit dem Auto hinfahren, aber wir müssen sie nicht mit der U-Bahn hin karren.“

Pkw-abhängige Strukturen

Das sei zwar eine verständliche Sichtweise, meint Lindner, die aber zu einer höheren Verkehrsbelastung führt und auch die Raumprobleme nicht löst. Ob der Bau am Stadtrand sinnvoll gewesen sei, sei eine andere Frage, sagt Lindner. Doch damit wurden erste Strukturen aufgebaut, die uns „vom Pkw abhängig machten.“ Jenen, die meinen, die SCS hätte man sich überhaupt sparen können, stellt Lindner die Frage: „Wo bringen sie solche Flächen in einer Stadt unter?“

Einkaufszentrum SCS am 13. Dezember nach dem Lockdown
APA/Herbert Pfarrhofer
Die Shopping City Süd war von Beginn an auf den Autoverkehr ausgelegt

Den Konsumentinnen und Konsumenten waren die Grenzen damals – wie auch heute – jedenfalls egal. Nicht zuletzt deshalb, weil der Wohlstand der Bevölkerung damals generell anstieg und die Kaufkraft massiv wuchs. „Die Leute haben begonnen, richtig zu konsumieren“. Dadurch stieg die Nachfrage nach unterschiedlichen Geschäften mit einer großen Auswahl. Vom Kaufkraftanstieg profitierten übrigens auch viele Händler in den Geschäftsstraßen.

Streit um Ladenöffnung

Doch nur kurze Zeit nach der Eröffnung entfachte ein neuer Streit zwischen den SCS-Betreibern auf der einen Seite und den eingesessenen Händlern der traditionellen Einkaufsstraßen sowie der Gewerkschaft auf der anderen Seite. Geschäfte, in denen Lebensmittel verkauft wurden, durften damals nämlich bis 18.30 Uhr offen halten, alle anderen nur bis 18.00 Uhr. In der SCS wurden sämtliche Waren bis 18.30 Uhr verkauft.

Streit zwischen SCS und Gewerkschaft um die Ladenöffnungszeiten

„Wir sind der Auffassung, dass wir ein Haus als Einheit sind, in dem Lebensmittel geführt werden, und deshalb dürfen wir offen halten“, erklärte Dujsik. Die Arbeitnehmer-Vertreter sahen das natürlich anders, denn jede Verlängerung erhöhe die Preise und schädige den Konsumenten, beklagte Franz Kulf, Zentralbetriebsobmann der Warenhausgesellschaft: „Wir werden alle Möglichkeiten ausschöpfen und uns zur Wehr setzen, nötigenfalls auch mit Streik.“ Am Ende gewann die Kaufkraft der Konsumenten.

Die SCS habe für sich „die Zeichen der Zeit immer rechtzeitig gedeutet und die nächste Erweiterungsstufe gezündet“, meint Hannes Lindner. Am 2. Oktober 1988 setzte man einen Schritt Richtung Süden: Auf einer zusätzlichen Verkaufsfläche von 40.000 m² zogen weitere 70 neue Shops und Gastronomiebetriebe ein. Das Möbelhaus IKEA wurde direkt an die Mall angebunden. Außerdem wurde ein Bürocenter gebaut.

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Die SCS wurde in den fast 50 Jahren ihres Bestehens mehrmals erweitert
100 Jahre NÖ SCS 1976 Eröffnung Handel
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100 Jahre NÖ SCS 1976 Eröffnung Handel
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Einkaufszentren boomen

In dieser Phase entwickelte sich nicht nur die SCS, sondern auch viele Bezirkshauptstädte in Niederösterreich wuchsen massiv. Ein Beispiel war der Raum Wiener Neustadt, wo es damals noch eine starke Innenstadt und eine immer größer werdende Peripherie u.a. mit dem Fischapark gab. Zu Spitzenzeiten umfasste das Einzugsgebiet laut Lindner an die 270.000 Einwohner. „Das war gewaltig, entsprechend hoch ist heute auch das Flächenaufkommen.“

Das Problem: Über die Jahre hinweg wurden die Ränder des Einzugsgebiets wieder von anderen Konkurrenten wie Fachmarktzentren „angeknabbert“. So entstanden in Neunkirchen der Panoramapark oder ein Zentrum in Leobersdorf (Bezirk Baden). „Dadurch entstehen dann Überkapazitäten, wie es im Raum Wiener Neustadt schon absehbar ist“, meint Lindner.

Fluch und Segen

Auch in den meisten anderen größeren Städten Niederösterreichs entstanden in den folgenden Jahren Einkaufszentren, oft jedoch auf der grünen Wiese am Stadtrand. „Der Boom der Einkaufszentren ist Fluch und Segen zugleich“, sagt der Experte für Raumordnung und Regionalentwicklung, Thomas Knoll. „Für die Menschen stieg das Angebot, gleichzeitig sind sie ein Beitrag zur Schwächung der Stadtzentren als historisch gewachsene Einkaufsstandorte.“

Einkaufszentren als Fluch und Segen

Ab der Jahrtausend-Wende entwickelten sich solche Zentren vom reinen Handelszentrum vermehrt zu Zentren für Unterhaltungs- und Freizeiterlebnisse. In der SCS wurden etwa ein Kinocenter mit neun Sälen, Bars und Gastronomie-Betriebe sowie eine Disco eröffnet. „Shops alleine haben nicht mehr ausgereicht. Die Einkaufszentren haben versucht, sich als urbane Entertainment-Center zu positionieren“, sagt Handelsexperte Lindner.

Umstrittener Titel

Heute umfasst das größte Einkaufszentrum Österreichs eine Verkaufsfläche von 235.000 Quadratmetern. Die SCS verfügt über etwa 330 Geschäfte mit 4.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Ob es sich bei der SCS um das größte Einkaufszentrum Europas handelt, ist eine Streitfrage, da gemessen an Besucherzahl, Verkaufserlösen oder Verkaufsfläche mehrere Einkaufszentren diesen Titel für sich beanspruchen.

100 Jahre NÖ SCS 1976 Eröffnung Handel
1998 wurde die SCS um ein Kinocenter, Bars und Gastronomie-Betriebe sowie eine Disco erweitert

Dass die Shopping City Süd an einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte Mitteleuropas liegt, ist ihr größter Vorteil. Mehr als 150.000 Autos passieren täglich die SCS. Im Einzugsgebiet von einer Stunde Fahrzeit leben mehr als drei Millionen Menschen. Im Jahr 2016 verzeichnete man laut Angaben auf der eigenen Homepage mehr als 20 Millionen Besucherinnen und Besucher.

Das letzte Shopping Center

In Niederösterreich dürfen mittlerweile auf der grünen Wiese keine neuen Einkaufszentren mehr gebaut werden. Das verbietet seit 2005 das Raumordnungsgesetz, zum einen wegen des hohen Bodenverbrauchs, zum andern, um die Innenstädte nicht weiter zu schwächen. Als letztes großes Shopping Center eröffnete 2014 das G3 in Gerasdorf (Bezirk Korneuburg). Neben Einkaufszentren entstanden aber vor allem kleinere Fachmarktzentren.

Die Endphase im letzten großen Einkaufszentrum in Niederösterreich

„Die Flächen sind bereits massiv“, gibt auch Hannes Lindner zu. Bis zu 40 Prozent der Umsätze, die in Österreich getätigt werden, betreffen Fachmarktzentren. Diese sind für den Experten aber die Antwort auf eine Siedlungsstruktur, „die wir selber geschaffen haben. Der Handel ist nicht blöd, er setzt sich genau dorthin, wo er das Feld abgrasen kann, wo er Kunden findet.“

„Lieblose, dysfunktionale“ Fachmarktzentren

Auch wenn viele solcher Fachmarktzentren nach außen hin „dysfunktional wirken“ und „lieblos in der Landschaft stehen“, stellen sie heute die moderne Nahversorgung dar. Effizienter wären laut dem Experten zwar große Retail-Parks, die besser geplant sind, „aber das unterbindet teilweise wieder die Raumordnung“. Zudem „hängen wir mittlerweile praktisch am Tropf unseres Pkw, der uns überall hinbringen soll.“

Die Gründe: Einerseits sei die Raumordnung einst „zahnlos“ gewesen, andererseits hätten professionelle Anwaltskanzleien Schlupflöcher gefunden und das umgesetzt, was der Projektentwicklungsmarkt oder Händler verlangt hätten. Die Fehler könnten heute zum Teil gar nicht mehr korrigiert werden, meint Lindner.

100 Jahre NÖ SCS 1976 Eröffnung Handel
Ein Vorteil der SCS ist die Lage an einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte Mitteleuropas

Die Schuld auf die Raumordnung abzuschieben, sei trotzdem zu kurz gegriffen. „Die Entwicklung zwischen 1970 und 2010 war so rasant, dass man sich förmlich anschnallen hätte müssen. Jetzt müssen wir damit auskommen und aus den Fehlern lernen.“ Denn letztlich gilt seit jeher das einfache Prinzip: Der Konsument hat Geld, das er verkonsumiert will. Der Händler will die Ware möglichst nah an den Konsumenten bringen.

Online-Handel trifft alle

Eine Entwicklung, die sowohl den Geschäften in den Innenstädten als auch in den Einkaufszentren zusetzt, ist der Online-Handel, dessen Marktanteil in den vergangenen Jahren deutlich stieg. In den Innenstädten reduzierten sich aus diesem Grund die Flächen von Textilhändlern von 33 auf 28 Prozent. Ob damit eine Bodenbildung erreicht sei, ist laut Lindner offen.

Leerstehende Geschäfte in der Alser Straße
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Einkaufszentren und Online-Handel setzen den Innenstädten zu

Viele Geschäfte stehen jedenfalls leer, viele Gemeinden reagieren darauf nicht selten mit speziellen Förderungen, um neue Händler anzulocken. Lindner ist hingegen der Meinung, „dass man dem Handel nicht zwangsläufig nachlaufen und sich verrenken muss.“ Zwar dürfe man auf den Handel langfristig nicht vergessen. Doch vorübergehend können auch Gastro-Betriebe oder Dienstleister leerstehende Flächen nutzen. Gleichzeitig müssten Flächen für den modernen Handel attraktiv gestaltet sein.

Erfolgreich etabliert

Ein erfolgreiches Beispiel, wie sich eine Innenstadt gegen ein Einkaufszentrum behaupten kann, ist laut Lindner ausgerechnet Mödling. Durch die Konkurrenz am Stadtrand musste man sich dort seit jeher schon anders orientieren. In den vergangenen Jahren habe das Stadtmarketing verstärkt auf einen nahversorgungsorientierten Handelsmix mit einem hohen Gastro- und Dienstleiter-Anteil gesetzt. Die Leerstandsrate liegt bei zwei Prozent. „Das ist gar nichts.“

Sendungshinweis

„Radio NÖ am Nachmittag“, 11.7.2022

Und auch E-Commerce bietet gerade belebten Innenstädten eine Chance, etwa Baden. Hier wird laut Lindner bereits abgewogen: „Fahre ich in die SCS oder shoppe ich im Internet?“ Die Zeit, die man sich durch das Online-Shoppen erspart, „kann man letztlich in der Stadt verbringen und merkt, dass die Stadt auch einiges zu bieten hat.“ Die Zukunft für solche Städte sieht der Experte „gar nicht zu schlecht“ und „entwicklungsfähig“.

„Dann muss es clashen“

Während Fachmarktzentren also boomen und Innenstädte mit Rückgängen kämpfen, stagnieren große Shopping-Zentren derzeit in ihrer Entwicklung. Zwar spüre man ebenfalls den Druck auf die Bekleidungsbranche, aber Lindners Eindruck ist: „Man will nicht alles im Internet einkaufen, man will auch hinaus gehen. Dann aber muss es ‚clashen‘, das Angebot in Hülle und Fülle da sein, sodass man sich richtig austoben kann.“

Unter diesem Wunsch würden vor allem mittelgroße Zentren leiden, die nicht alle großen Modehändler haben, sondern nur eine eingeschränkte Auswahl. „Die werden eher übersprungen, da bleibe ich lieber auf der Couch sitzen“, meint der Experte. Um die großen Einkaufszentren wie die SCS, die immer stärker auf den Erlebnischarakter setzen, macht er sich hingegen keine Sorgen.

Surfmeisterschaften auf der CityWave
Stefan Knittel
Mit Events wie dem City Wave versuchen die Einkaufszentren mittlerweile zusätzlich Publikum anzuziehen

Doch egal ob groß oder klein – letztlich müssen die Zentren den Händlern Frequenz bieten. Die nächste Entwicklungsstufe sieht Lindner in der Multifunktionalität. „So werden auch ärztliche Einrichtungen integriert, was aber nicht zur Freude der örtlichen Bürgermeister ist, die wieder Frequenz in der Innenstadt verlieren.“ Teilweise werden solche Konzepte bereits ausgearbeitet oder umgesetzt.

Sind wir glücklich mit der Entwicklung?

Sind wir glücklich mit der Entwicklung, stellt sich Hannes Lindner nach der Analyse des aktuellen Zustands selbst die Frage. „Wir sind selber schuld“, konstatiert er: „Unsere Siedlungsstrukturen schauen so aus, der Handel findet die Antwort selbst und siedelt sich dort an, wo Konsumenten und Verkehr ist. Alle wollen eine nahegelegene Nahversorgung aber im Grünen leben.“

Für Lindner befinden wir uns in einem spannenden Zeitraum, in dem wir das Übermaß verstehen und hinterfragen, ob das alles sinnvoll war. „Wir waren Konsumhelden. Von 1970 bis 2015 haben wir uns sehr stark treiben lassen und jetzt sind wir gezwungen umzudenken.“ Was brauchen wir wirklich? Wo müssen wir uns zurückentwickeln oder Dinge anders nutzen? Die Bevölkerung transformiere sich zunehmend zur Wissensgesellschaft, wo nur noch bedingt produziert werde.

„Es ist eigenartig, von der Konsumwelt die letzte Welle geritten zu haben“, meint Lindner fast schon etwas philosophisch. Diese Entwicklung sei aber kein Schlammassel, vielmehr eine aufregende Zeit: Was ist überlebensfähig, welchen Stellenwert darf Konsum in Zukunft haben, wie stellt sich das auf der Fläche dar. „So wie wir es erlebt haben, wird es wohl nicht sein, das wird sich ändern. Wie? Da sind wir momentan dran, uns das zu überlegen.“