„Die Befreiung von der NS-Herrschaft erfolgte nicht durch einen Aufstand der Bevölkerung, sondern durch sowjetische Truppen im April 1945“, so der Zeithistoriker Stefan Eminger vom Niederösterreichischen Landesarchiv in St. Pölten. Noch in den letzten Kriegstagen verübten SS, Volkssturm und Teile der Bevölkerung mehrere Massaker an politischen Häftlingen und ausländischen Zwangsarbeitern.
Die politische Verwaltung wird aufgebaut
Doch bereits vor dem offiziellen Kriegsende wurde die politische Verwaltung in Niederösterreich wieder aufgebaut: Am 18. April 1945 erlaubten die Sowjets Leopold Figl (ÖVP), eine Landesregierung für Niederösterreich zu bilden. Ab 27. April war die Provisorische Staatsregierung Renner im Amt (bis 20. Dezember 1945). Es handelte sich um eine in den Tagen davor von den Parteien vereinbarte Konzentrationsregierung aus SPÖ, ÖVP und KPÖ.
Am 8. Mai beschlossen Staatssekretär Leopold Figl, Unterstaatssekretär Oskar Helmer (SPÖ) und der Minister a.D. Rudolf Buchinger (ÖVP) die Bildung eines Provisorischen Landesausschusses für Niederösterreich, dem Vertreter aller Parteien (vier ÖVP, drei SPÖ, zwei KPÖ) angehören sollen. Figl wird Vorsitzender, Helmer Stellvertreter. Die Bezirkshauptmannschaften sollten bis 15. Mai ihre Tätigkeit voll aufnahmen, so das Ziel. Drei Tage später konstituierte sich der Provisorische Landesausschuss. Am 29. Mai ernannte der Kabinettsrat der Provisorischen Regierung Renner Leopold Figl zum provisorischen Landeshauptmann von Niederösterreich, Stellvertreter wurden Oskar Helmer und Otto Mödlagl (KPÖ).
Sorge ums Überleben bestimmt Denken und Handeln
Die Zustände nach dem Kriegsende waren sehr chaotisch, die Sorge um das eigene Überleben, um Familie und Nahrungsmittel bestimmte das Denken und Handeln. Nachdem große Teile des Landes Frontgebiet waren, waren die Schäden an der Infrastruktur sehr groß: 71 Prozent der Bauschäden an österreichischen Industrieanlagen entfielen auf das Bundesland Niederösterreich. Wiener Neustadt war die am stärksten zerstörte Stadt Österreichs: Nur 18 Häuser waren unbeschädigt, 52.000 Bomben waren auf die Stadt abgeworfen worden.
Der Zweite Weltkrieg war zu Ende. Was nun? Im Land herrschte große Not, es mangelte an Nahrung, Kleidung und Wohnraum. Die Menschen versuchten sich an die neue Situation zu gewöhnen: Bestimmte Themen waren tabu: Die Jahre 1938 bis 1945, der Massenmord an der jüdischen Bevölkerung, Konzentrationslager und Denunziationen. Es gab kein „tausendjähriges Reich“ mehr, das eigene Bundesland hieß wieder Niederösterreich und nicht mehr „Ostmark“ und lag in der sowjetischen Besatzungszone.
Zwei Sichtweisen: Befreiung oder Besatzung?
Die Erinnerung an die sowjetische Befreiung Niederösterreichs und die nachfolgende Besatzungszeit bis 1955 sei über Jahrzehnte hinweg von zumindest zwei Geschichtsbildern beherrscht gewesen, schreibt der Historiker Klaus-Dieter Mulley in dem 2005 erschienenen Buch „Die Rote Armee in Österreich“, herausgegeben von Stefan Karner und Barbara Stelzl-Marx: „Zum einen von jenem, das den Sowjets einen maßgeblichen Anteil am Wiederaufbau der Verwaltung unter österreichischer Leitung zusprach und die Übergriffe von Teilen der Roten Armee marginalisierte, zumindest aber negierte. Zum anderen der vom Gedächtnis der die Besatzungszeit Miterlebenden, dem allerdings lange Zeit kein Platz in der veröffentlichten Geschichte gegeben wurde.“
Dieses zweite Geschichtsbild war nach Mulley beherrscht von Requirierungen, Diebstählen, willkürlichen Haus- und Hofbesetzungen, von Mord und Vergewaltigungen. „In den zahlreichen, meist kleinen und kurzen Erzählungen von Betroffenen kamen die schier unvorstellbaren Ängste vor der sowjetischen Besatzungsmacht zum Ausdruck, die zumindest für die ersten zwei bis drei Jahren das Leben der Menschen in Niederösterreich geprägt hatten.“
40.000 Österreicher waren „belastet“
Der Antisemitismus, ein wesentlicher Bestandteil des Nationalsozialismus unter Adolf Hitler, war mit dem Jahr 1945 jedoch nicht zu Ende. Erst ab den 1960er Jahren begann Österreich sich kritisch mit seiner NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen, deren Spuren reichen bis in die Gegenwart, sagte vor wenigen Tagen der Historiker Gerhard Baumgartner, wissenschaftlicher Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW).
Der Antisemitismus sei keine Erfindung der Nationalsozialisten gewesen und er sei auch mit dem Zusammenbruch des Dritten Reichs nicht verschwunden. Vielmehr sei er, wie der Antiziganismus, „Bestandteil des kulturellen Codes europäischer Gesellschaften“, so Baumgartner.
Seinen Angaben zufolge wurden in Österreich insgesamt zwischen 1945 und 1955 13.600 Menschen nach dem Kriegsverbrechergesetz verurteilt. Österreichische Nationalsozialisten habe es ungefähr 530.000 gegeben, davon seien 40.000 als „belastet“ eingestuft worden. 30 Verurteilte seien hingerichtet worden, 29 zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt und 269 Menschen seien zu Strafen zwischen zehn und 20 Jahren verurteilt worden. Doch fast alle der verurteilten Kriegsverbrecher seien nach 1955 durch österreichische Bundespräsidenten wieder begnadigt worden.
Der Zweite Weltkrieg im Jahr 1945
- 27. Jänner: Das NS-Vernichtungslager Auschwitz wird von der Roten Armee befreit.
- 13./14. Februar: Alliierter Luftangriff auf Dresden mit weitgehender Zerstörung der Altstadt.
- 5. bis 11. Februar: Jalta-Konferenz legt u.a. Entmilitarisierung und Reparationszahlungen für Nachkriegsdeutschland fest.
- 29. März: Sowjetische Truppen erreichen Österreich. Die Westalliierten betreten erst einen Monat später, am 28. April, in Tirol Österreich.
- 5. April: Beginn der Schlacht um Wien, das am 13. April befreit wird.
- 20. April: Mit Artilleriebeschuss beginnen insgesamt 2,5 Millionen sowjetische Soldaten den „Sturm auf Berlin“.
- 27. April: In Wien proklamiert die Provisorische Staatsregierung die „Wiederherstellung der Republik Österreich“.
- 29. April: Konstituierende Sitzung der Regierung von Karl Renner in Österreich.
- 30. April: Suizid Hitlers in Berlin, Nachfolger wird Admiral Karl Dönitz.
- 3. Mai: Die ersten US-Truppen erreichen Innsbruck.
- 5. Mai: Als letztes Konzentrationslager des Naziregimes wird Mauthausen in Oberösterreich von alliierten Truppen befreit. Die 7. US-Armee rückt in Linz ein.
- 8. Mai: Bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht („Victory in Europe Day“, VE Day), in der Sowjetunion gilt der 9. Mai als „Siegestag“.
- 6. August: Die USA werfen die erste Atombombe auf die japanische Stadt Hiroshima, gefolgt von einer zweiten Bombe am 9. August auf Nagasaki.
- 15. August: Der japanische Kaiser Hirohito verkündet die Kapitulation Japans („Victory over Japan Day“, VJ Day).
- 2. September: Japan unterzeichnet Kapitulation auf dem US-Kriegsschiff USS Missouri; es ist dies das offizielle Ende des Zweiten Weltkriegs.