Chronik

Armut erreicht die Mittelschicht

Immer mehr Menschen können die Kosten für Heizen, Wohnen und Lebensmittel nicht mehr stemmen. Die Schuldnerberatung und andere Beratungsstellen verzeichnen einen Ansturm. Betroffen sind immer mehr Leute aus der „Mittelschicht“.

Milch ist um 21 Prozent teurer geworden, Butter um 77 Prozent, Mehl sogar um das Doppelte. Auf zwei Sesseln präsentierte das Armutsnetzwerk bei einer Pressekonferenz am Mittwoch in St. Pölten Produkte eines alltäglichen Einkaufs. Auf dem linken Sessel lagen jene Waren, die man vor einem Jahr noch um 50 Euro bei einem österreichischen Diskonter erhalten hatte, auf dem rechten Stuhl jene, die man heute um dasselbe Geld bekommt. Auf den ersten Blick ist klar: Heute sind es deutlich weniger.

Die Teuerung macht sich aber nicht nur beim alltäglichen Einkauf bemerkbar, sagte Barbara Bühler, Obfrau des Niederösterreichischen Armutsnetzwerks. „Ganz viele Menschen wissen nicht mehr, wie sie ihre Wohnungen heizen sollen, ganz viele wissen nicht mehr, wie sie sich die Wohnung überhaupt leisten können. Gerade in Zeiten wie diesen, wo jeder froh ist, wenn er in die warme Wohnung kommt, ist die Betroffenheit besonders groß.“

Das Armutsnetzwerk besteht aus 29 Sozialeinrichtungen im Bundesland – von kleinen Selbsthilfegruppen bis zu großen Organisationen wie der Caritas oder der Schuldnerberatung. Das Netzwerk setzt sich für Menschen ein, die armutsgefährdet bzw. bereits von Armut betroffen sind und richtet Forderungen u.a. an die Politik. Die Einrichtungen seien sozusagen die „Seismographen der Gesellschaft“, sagte der Generalsekretär der Caritas der Diözese St. Pölten Christoph Riedl. „Wir spüren sehr schnell und sehr rasch, wenn sich die Situation für armutsbetroffene Menschen zuspitzt. Das ist heuer ganz besonders der Fall.“

Ansturm auf Schuldnerberatung

Bei der Schuldnerberatung in Niederösterreich schlägt sich die Teuerung bereits in der Statistik nieder. Die Zahl der Erstkontakte sei heuer „so hoch wie noch nie“, sagte Geschäftsführer Michael Lackenberger. Von Jänner bis November hätten sich heuer bereits 2.400 Menschen erstmalig an die Schuldnerberatung gewendet, vor Beginn der Coronavirus-Pandemie seien es im selben Zeitraum durchschnittlich 1.800 Menschen gewesen. Die Folge sind längere Wartezeiten, in der Beratungsstelle in Wiener Neustadt sind es derzeit etwa acht bis zwölf Wochen, die man versucht, mit telefonischen Beratungen abzufedern.

Auch die Zahl der Privatkonkurse ist dramatisch gestiegen. 970 waren es in den ersten drei Quartalen heuer in Niederösterreich. Das sind 36,2 Prozent mehr als im selben Zeitraum des Vorjahres. „Vielen ist in Zeiten der Teuerungen aber selbst ein Privatkonkursverfahren nicht mehr möglich“, sagte Lackenberger. Voraussetzung dafür sei nämlich, dass man mit dem monatlichen Einkommen auskommt und keine neuen Schulden macht.

Fast alle Klientinnen und Klienten der Schuldnerberatung hätten Gehaltspfändungen und würden nur das Existenzminimum – das sind aktuell 1.030 Euro im Monat – ausbezahlt bekommen. Der Betrag, der darüber liegt, wird an die Gläubiger verteilt. „Das geht sich bei den hohen Lebenskosten immer öfter nicht mehr aus“, so der Chef der Schuldnerberatung. „Viele Menschen sprechen von einem Wohlstandsverlust durch die Teuerung. Für unsere Klientinnen und Klienten droht ein Existenzverlust.“

Pressekonferenz des NÖ Armutsnetzwerks: Michael Lackenberger, Barbara Bühler, Christoph Riedl (v.l.)
ORF
„Unseren Klientinnen und Klienten droht ein Existenzverlust“: Der Geschäftsführer der Schuldnerberatung, Michael Lackenberger, die Obfrau des Armutsnetzwerks, Barbara Bühler, und der Generalsekretär der Caritas der Diözese St. Pölten, Christoph Riedl (v.l.)

Bei den Sozialberatungsstellen der Caritas der Diözese St. Pölten haben sich Anfragen laut Generalsekretär Christoph Riedl auf mehr als 4.200 verdoppelt. In den meisten Fällen geht es um Nachzahlungen für Strom und Gas, Mietrückstände und die immer höher werdenden Kosten für Lebensmittel.

Auf Unterstützung angewiesen, sind allerdings nicht mehr nur die, die es auch schon vorher schwer hatten, ihren Alltag zu finanzieren. „Die Armut kommt langsam in der Mittelschicht an, auch das merken wir bei der Caritas. Es kommen Menschen zu uns in die Beratung, die sagen, sie hätten nie gedacht, dass sie selbst einmal Hilfe der Caritas benötigen würden.“

Abschaltstopp für Heizungen gefordert

Nicht nur die Lebensmittelpreise, auch die Heizkosten sind dramatisch gestiegen – laut Armutsnetzwerk im Schnitt um 70 Prozent. Daher wurde am Mittwoch gefordert, dass in keinem Haushalt in Niederösterreich die Heizung abgeschaltet wird – auch wenn die Rechnung nicht bezahlt werden kann. Weitere Forderungen betreffen Reformen der Wohn- und Sozialhilfe. Konkret soll der Kreis der Anspruchsberechtigten ausgeweitet werden.

„Zeiten der Krise sind auch immer Zeiten, wo Sollbruchstellen in der sozialen Sicherheit Gefahr laufen, zu Brüchen zu werden. Es gab viele rechtliche Regelungen in Niederösterreich, die bereits davor problematisch waren, wo wir bereits davor gesehen haben, dass sie für viele Menschen nicht armutsfest waren und soziale Sicherheit nicht gewährleistet haben“, sagte Bühler.