Zeitzeugin Gerlinde Stecker Jahrgang 1929 aus Neunkirchen zu 75 Jahre Ende 2. Weltkrieg
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1945/2020

Gerlinde Stecker: „Angst haben wir alle gehabt“

Gerlinde Stecker ist Jahrgang 1929. Die ehemalige Journalistin lebt in Neunkirchen. Sie war 16 Jahre alt, als die sowjetischen Truppen 1945 in ihrer Heimatstadt Neunkirchen einmarschiert sind und den NS-Terror beendet haben. „Angst haben wir natürlich alle gehabt“, sagt sie im Gespräch mit noe.ORF.at.

„Wir haben in den letzten Wochen vor Ostersonntag (1. April 1945, Anm.), als die Russen hier in Neunkirchen gelandet sind, schon von Weitem diesen Kanonendonner und die Geschützsalven gehört. Die Russen standen nämlich schon ganz in der Nähe von Ödenburg. Natürlich haben wir gewusst, dass sie kommen werden. Aber richtig bewusst ist es uns beziehungsweise mir erst dann geworden, als am Gründonnerstag der erste Tieffliegerangriff auf Neunkirchen war.“

Die Familie von Gerlinde Stecker flüchtete zunächst aufs Land. Als die Kampfhandlungen fürs Erste vorbei waren, kamen sie wieder in ihr Haus nach Neunkirchen zurück, das sie sich mit Soldaten der Roten Armee teilen mussten. „Drei waren bei uns einquartiert: Ein Offizier, dann ein einfacher Soldat und ein Dolmetscher, der russischer Jude war. Die Dolmetscher waren meistens Juden, weil sie am besten Deutsch konnten.“

Zeitzeugin Gerlinde Stecker Jahrgang 1929 aus Neunkirchen zu 75 Jahre Ende 2. Weltkrieg
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Gerlinde Stecker: „Richtig bewusst ist es mir geworden, dass die Russen kommen, als am Gründonnerstag der erste Tieffliegerangriff auf Neunkirchen war“

Wie war das Verhältnis zu den Rotarmisten? „Sie haben sich uns gegenüber sehr anständig benommen. Da hätte uns keiner dieser Russen belästigt. Meine Mutter hat es auch geschafft, sich Respekt zu verschaffen. Das haben sie akzeptiert und toleriert, das hat ihnen sogar gefallen.“

„Man passt sich dann an“

Auch wenn die Sowjets Anfang Mai schon längere Zeit in Neunkirchen waren, so war der Zweite Weltkrieg noch immer nicht beendet. „Ja, das war eine ungewisse Zeit. Ich bin von Natur aus kein ängstlicher Mensch. Ich bin sogar ein Optimist, der immer das Positive sieht und auch hofft, dass es kommt. Aber Angst… Angst haben wir natürlich alle gehabt, das Maß der Angst war aber sicher unterschiedlich.“

Doch dann kam am 8. Mai 1945 die Erlösung, das Kriegsende. „Man wusste nicht, ob die Russen weggehen. Man passt sich dann an, man wird aber deswegen kein ‚Russenliebhaber‘. Sie sind da, und ‚wir‘ – wir unter Anführungszeichen – haben den Krieg verloren, also müssen wir uns mit der Situation zurechtfinden. Wir waren unter ständiger Kontrolle, ich als Mädchen, als Schülerin, hab’s nicht so schlimm empfunden. Wahrscheinlich war ich auch zu jung, um die ganze Dimension der Lage zu spüren.“

Gerlinde Stecker Jahrgang 1929 aus Neunkirchen in ihrer Schulklasse im Jahr 1943. 75 Jahre Ende 2. Weltkrieg
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Gerlinde Stecker (im Kreis), Jahrgang 1929, in ihrer Schulklasse in Neunkirchen im Jahr 1943

Die Historikerin Elisabeth Vavra schreibt im MuseumsBLOG auf der Website des Museum Niederösterreich über den 1. April, den Ostersonntag des Jahres 1945: „Das Pittental war nachts von Bränden taghell erleuchtet, aber es waren diesmal nicht die Freudenfeuer der Osternacht. Weitere sowjetische Panzerkolonnen drangen kampflos nach Aspang, Feistritz und Kirchberg am Wechsel vor. Mittags standen Panzer vor Gloggnitz; es kam zu Schießereien und Bränden. Aus einem Luftschutzbunker holten die Sowjets Dr. Karl Renner. Panzereinheiten fuhren weiter nach Süden Richtung Semmering und trafen dort auf Widerstand. Östlich des Rosaliengebirges stießen weitere sowjetische Panzereinheiten vor – ihr Ziel war das Wiener Becken, um von Süden Wien anzugreifen. Um 14 Uhr fiel Pöttelsdorf. Am Abend des 1. April war das Steinfeld fest in sowjetischer Hand. Unterstützt wurden die Bodentruppen durch die US-Bombengeschwader.“

Der Programmschwerpunkt des ORF Niederösterreich

Eine Serie in „Niederösterreich heute“ geht bis 6. Mai auf die historischen Hintergründe ein und beleuchtet die Ereignisse vor 75 Jahren in Niederösterreich. Zeitzeugen erinnern sich an die entscheidenden Momente des Frühjahrs 1945.

Johann Hagenhofer (Jahrgang 1941) und Anna Kornfeld (Jahrgang 1934), beide aus Hochwolkersdorf (Bezirk Wiener Neustadt), sowie Gerlinde Stecker (Jahrgang 1929) aus Neunkirchen schildern die Kämpfe der letzten Märztage 1945 sowie die Ereignisse bis zum Kriegsende am 8. Mai. Die Beiträge, die in „Niederösterreich heute“ von 4. bis 6. Mai gezeigt wurden, sind noch jeweils eine Woche lang in der ORFTVthek zu sehen.

Auch die Zeitzeugenerinnerungen, die im Radio-Niederösterreich-„Mittagsmagazin" gesendet wurden, kann man noch eine Woche lang in der Radiothek „nachhören“. In noe.ORF.at gibt es bis 8. Mai ausführliche Beiträge über das Kriegsende in Niederösterreich, Zeitzeugenberichte und Rückblicke auf die historischen Hintergründe der damaligen Schicksalstage Anfang Mai 1945.

Ein Themenabend im ORF-Fernsehen

75 Jahre Kriegsende nimmt ORF 2 am Mittwoch zum Anlass für einen Zeitgeschichte-Themenabend. Den Auftakt macht um 20.15 Uhr ein von Tarek Leitner moderiertes „Menschen und Mächte“-Spezial live aus dem Newsroom: Im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg waren 1945 viele Städte Österreichs durch massives Bombardement schwer beschädigt oder gar zerstört. Hitler hatte am 30. April 1945 Selbstmord begangen. Am 8. Mai ist der Zweite Weltkrieg offiziell zu Ende. Soldatenfriedhöfe, Bombenruinen und Schutthalden stehen symbolhaft für das apokalyptische Ende der Schreckensherrschaft des NS-Regimes. Jene, die den Holocaust überlebt haben, sind nun befreit, doch viele von ihnen psychisch schwer gezeichnet.

Sendungshinweis

„NÖ heute“, 6.5.2020

Die Sondersendung behandelt die Wendezeit zwischen Zusammenbruch und Neubeginn, zwischen Befreiung, Kriegsende und den ersten Versuchen des Wiederaufbaus. Neben der zeitgeschichtlichen Reise durch die vier Besatzungszonen wird auch die Frage thematisiert, wie der Glaube an das „Neue Österreich“, an die Zweite Republik und die neue „Identität in Rot-Weiß-Rot“ gewachsen ist. Im Studio analysieren Historikerinnen und Historiker.

Im Zeichen des ORF-Programmschwerpunkts „75 Jahre Ende Zweiter Weltkrieg“ stehen danach die „Menschen & Mächte“-Dokumentationen „Die Zeit der Frauen“ (21.25 Uhr, ORF 2) und „Der Häftling und der Sohn des Lagerleiters“ (22.45 Uhr, ORF 2) sowie das Historiendrama „Die Freibadclique“ (23.35 Uhr, ORF 2).